Endlich eine Grossmutter zu haben, das war Fulmwits grosser Wunsch. Die Vierjährige und ihre Mutter Qdusan Debru lebten 2020 in Zuzgen im Kanton Aargau, alle anderen Familienmitglieder in Ostafrika, in Eritrea. Zu ihnen hatte Fulmwit zwar sporadisch Kontakt, aber nur am Telefon, erzählt ihre Mutter. Doch ein eigenes «Grosi», so wie ihre Freundinnen im Kindergarten, das hatte das Mädchen nicht.
Qdusan Debru wollte ihrer Tochter den Wunsch nach einem Grossmami erfüllen. Sie fragte bei einer Freundin nach, ob sie nicht jemanden kennen würde, die sich vorstellen könnte, Zeit mit Fulmwit zu verbringen. Ihre Freundin machte sich auf die Suche.
Ein fremdes Kind betreuen
Rosmarie Hürner lebte damals allein. Sie hatte erst gerade ihren Mann, danach ihren Hund verloren. Eigene Kinder hatte sie keine. «Es war eine Zeit, in der ich mich neu orientieren musste», sagt Hürner. Bis vollkommen unverhofft das Telefon klingelte.
Ich habe gemerkt, dass ich gerne für ein Kind da sein möchte.
Eine Bekannte aus dem Dorf, Qdusan Debrus Freundin, fragte Hürner, ob sie sich vorstellen könnte, ein Kind zu begleiten, das im Asylheim lebt, sozusagen als Patin. Rosmarie Hürner musste nicht lange nachdenken: «Ich habe gemerkt, dass ich gerne für ein Kind da sein möchte.»
Hürner sagte zu – unter einer Bedingung. Sie wollte, dass die Patenschaft von einer Organisation betreut wird. Falls etwas sein sollte, könnte die Organisation unterstützen.
So kamen sie auf das Patenschaftsprojekt « mit mir » der Caritas Aargau. Nach einigen Absprachen organisierte die Caritas ein Treffen. Sofern das gut laufen sollte, sollte der Patenschaft nichts mehr im Weg stehen.
Zuerst stand Fulmwit still und schaute mich an. Dann rannte sie plötzlich mit offenen Armen auf mich zu.
Hürner kann sich noch gut an das erste Treffen erinnern. Zusammen mit einer Vertreterin der Caritas traf sie sich mit Qdusan Debru und dem damals vierjährigen Mädchen auf einen Spaziergang. «Fulmwit, das wäre nun dein ‹Grosi›», sagte die Caritas-Vertreterin.
«Zuerst stand Fulmwit still und schaute mich an. Dann rannte sie plötzlich mit offenen Armen auf mich zu und hielt mich fest», erinnert sich Hürner. Schnell war klar: Die beiden passen zusammen.
Rosmarie Hürner sitzt am Esstisch in ihrer Wohnung, neben ihr die siebenjährige Fulmwit. Das erste Treffen ist mittlerweile über dreieinhalb Jahre her. Seitdem hütet sie das Mädchen einmal in der Woche, während den Ferien mehrmals. Fulmwit nannte Hürner anfangs Oma, mittlerweile «Grosi».
Die Begleitung der Caritas hat längst geendet, nach zwei Jahren können Patin oder Pate sowie die Familie selbst entscheiden, ob sie weiterhin in Kontakt bleiben möchten. Im Fall von Rosmarie Hürner, Fulmwit und Qdusan Debru war der Fall klar.
Hürner schaut dem Mädchen zu, wie es einen Pinsel in die Wasserfarbe tunkt und über ein Blatt Papier streicht. Die beiden malen oft zusammen, gehen auf den Spielplatz oder gelegentlich in den Zoo. Wie es Grosseltern mit ihren Grosskindern so machen. Rosmarie Hürner lächelt, als sie sagt: «Fulmwit ist wie ein richtiges Grosskind für mich.»
Ich fühle mich sehr wohl, wenn Fulmwit mit Rosmarie zusammen ist.
Auch Qdusan Debru ist froh, dass sich Rosmarie Hürner und ihre Tochter gefunden haben. Zum einen hat ihre Tochter endlich eine Bezugsperson, abgesehen von ihr. «Ich fühle mich sehr wohl, wenn Fulmwit mit Rosmarie zusammen ist», sagt Debru.
Zum anderen ist das «Grosi» auch eine Entlastung für Debru. Sie ist alleinerziehende Mutter und arbeitet in Basel in einem Hotel. Manchmal bleibt ihr weniger Zeit für ihre Tochter, als ihr lieb wäre.
Grosseltern werden immer wichtiger
Grosseltern bekommen eine zunehmend grössere Bedeutung, sagt François Höpflinger, emeritierter Soziologieprofessor und Altersforscher. Nicht nur in der Schweiz, sondern europaweit. Denn viele Grosseltern engagieren sich in der Betreuung. Gemäss Schätzungen beträgt der wirtschaftliche Wert der Grosselternbetreuung in der Schweiz rund acht Milliarden Franken pro Jahr.
«Gleichzeitig haben wir festgestellt, dass sich die Qualität der Beziehung zwischen Grosseltern und Enkeln in den letzten 20 bis 30 Jahren deutlich verbessert hat», sagt Höpflinger.
Das hängt gemäss dem Altersforscher damit zusammen, dass die Beziehung von erwachsenen Kindern zu ihren Eltern sich tendenziell verbessert hat: «Es gibt auch immer mehr Grosseltern, die gesund und mobil sind und sich aktiv mit den Enkelkindern auseinandersetzen.»
«Grosi» muss nicht blutsverwandt sein
Wie bei Rosmarie Hürner und Fulmwit Debru müssen Grosseltern und Enkel nicht unbedingt blutsverwandt sein. Höpflinger hat im Rahmen seiner Forschung untersucht, wer aus Sicht der Kinder zur Familie gehört: «Neben dem Familienhund können sogar Lehrpersonen oder Nachbarn zur Familie gehören, also durchaus auch Wahlverwandte.»
Gemäss François Höpflinger gibt es jedoch auch Stolpersteine bei einer Wahlverwandtschaft. Zum einen nennt er kulturelle Unterschiede: «Wenn die Familie eine andere Herkunft hat, muslimisch ist, kann man natürlich kein Schweinefleisch auftischen.» Zudem müsse man auf das Alter der Wahlenkel achten. Je nachdem habe das Kind andere Bedürfnisse.
Zwei Kulturen treffen aufeinander
Bei Rosmarie Hürner und der Familie Debru sind die kulturellen Unterschiede kein Problem. Hürner gehört zur Familie und ist auch an traditionellen Festen dabei. «Nicht nur ich zeige Fulmwit die Schweizer Kultur zum Beispiel beim Essen, sondern auch ich lerne viel über Eritrea», sagt Hürner.
Qdusan Debru habe ihr sogar ein eritreisches Gewand geschenkt, das sie immer dann trage, wenn sie zu einem Fest eingeladen werde.
Auch zwischen «Grosi» und Mutter ist mittlerweile eine Freundschaft entstanden. «Mir war es von Anfang an wichtig, dass ich auch einen Bezug zu Fulmwits Mutter habe», sagt Hürner. Wenn sie Fulmwit zu Hause abgeholt habe, sei sie oft zum Tee geblieben.
Für Hürner sei Debru wie eine Tochter. Debru stimmt ihr zu: «Ich habe keine Geheimnisse und kann ihr alles erzählen. Rosmarie ist eine Freundin und auch wie eine Mutter.»
«Grosi» auf Zeit?
Was eine Wahlverwandtschaft und eine Blutsverwandtschaft jedoch unterscheidet: «Biologische Grosseltern hat man bis zum Tod, die Wahlgrosseltern auf Zeit», sagt Altersforscher Höpflinger. Viele Patenschaften würden einmal enden.
Wie es mit Rosmarie Hürner und ihrer Wahlfamilie weitergeht, bleibt offen. Qdusan Debru würde gerne umziehen, aber in Zuzgen (AG) findet sie keine Wohnung, die ihrem Budget entspricht. Es könnte sein, dass sie und ihre Tochter eines Tages aus Zuzgen wegziehen: «Dann würden wir Rosmarie weniger oft sehen.» Debru denkt jedoch nicht, dass der Kontakt zu ihr verloren gehen würde.
Auch Hürner hat sich Gedanken gemacht über die Zukunft. Sie sei mit der aktuellen Situation zufrieden. Aber sie wisse auch, dass in der Pubertätszeit das «Grosi» vielleicht nicht mehr so gefragt sei. «Ich weiss, dass ich Fulmwit auch wieder loslassen kann, aber ich werde immer interessiert sein an ihr, solange sie das möchte.»