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Zeitzeuginnen erzählen «Die Seegfrörni war das Schönste, was ich je erlebt habe»

Zwei Kinder, die mit dem Velo über den halbgefrorenen See fuhren, der noch nicht freigegeben war. Ein Mann, der es fast nicht mehr rechtzeitig auf die andere Seite schaffte. Eine Frau, die mit einem Eissegler über den Zürichsee flitzte. Drei Menschen erinnern sich an die Seegfrörni vor 60 Jahren.

Es war ein Naturschauspiel, ein Jahrhundertereignis und ein Riesenspektakel. Vor 60 Jahren froren der Bodensee und der Zürichsee zuletzt komplett zu. Nachdem die Polizei die Eisflächen freigegeben hatte, tummelten sich jeweils tausende Menschen auf den Seen. Bisweilen kam regelrechte Volksfeststimmung auf. 

Mit Schlittschuhen, Velos oder Schlitten zog man über den See, verweilte da, wo sonst nur Wasser war, und kaufte Marroni mitten auf der Eisfläche. Es fuhren sogar Autos über die gefrorenen Seen. Wer damals dabei war, erlebte Historisches. Drei Zeitzeuginnen und Zeitzeugen erzählen, welche speziellen Momente sie während der Seegfrörni 1963 erlebt haben.

Ohne Kompass oder Karte über den Bodensee

Ein altes Klassenfoto auf dem zugefrorenen Bodensee 1963.
Legende: Josef Graf als Sechstklässler auf dem zugefrorenen Bodensee (das 10. Kind von links, zweite Reihe mit der grauen Mütze). zvg/Josef Graf

Wohl einer der ersten, der den gefrorenen Bodensee überquerte, war Josef Graf aus Rorschach SG. Mit elf Jahren fuhr er mit dem Velo über den See – der noch gar nicht offiziell freigegeben war – nach Deutschland. «Unser Abenteuer hat nicht gerade Begeisterung ausgelöst bei unseren Eltern», sagt der mittlerweile 71-Jährige und lacht.

Wir mussten absteigen, das Velo über den Spalt auf die glitschige Eisplatte schieben und über den Spalt wieder runter.
Autor: Josef Graf Zeitzeuge Seegfrörni

Josef Graf war damals in der sechsten Klasse. Er war ein Junge, der «gerne mal Seich gemacht hat», sagt er selbst. «Ich hatte noch nie einen zugefrorenen See gesehen. Wir haben sofort gemerkt, dass wir diese Situation nutzen müssen.» Also schnappten sein zwei Jahre jüngerer Bruder und er ihre Velos und fuhren nach Rorschach an den Hafen. Dort begannen sie ihre Fahrt über die riesige Eisfläche nach Deutschland. Ohne Kompass oder Karte.

Gefährlicher Weg über lose Eisplatte

Bis zur Mitte des Sees ging alles gut. Dann begegneten sie einer grossen, losen Eisplatte, genau dort, wo die Rheinströmung durchfloss. «Wir mussten absteigen, das Velo über den Spalt auf die glitschige Eisplatte schieben und über den Spalt wieder runter», sagt Graf. Nachdem sie die gefährliche Rheinströmung überquert hatten, habe er ziemlich weiche Knie gehabt. Dennoch stiegen die beiden wieder auf und fuhren weiter.

Eine Bestätigung für die Seeüberquerung.
Legende: Der Bürgermeister von Nonnenhorn stellte dem elfjährigen Josef Graf eine Bestätigung für die Überquerung des Sees aus. Graf hat sie bis heute behalten. zvg/Josef Graf

Und plötzlich waren sie am deutschen Ufer in Nonnenhorn. «Wir haben uns gedacht, wir brauchen eine Bestätigung, sonst glaubt uns das niemand», sagt Graf. Also fuhren die Buben zur Gemeindeverwaltung. Der Bürgermeister staunte nicht schlecht und stellte den beiden Buben höchstpersönlich ein Dokument aus. Danach stiegen sie wieder aufs Velo und fuhren den ganzen Weg zurück. Sobald sie das Schweizer Ufer sahen, konnten sie sich orientieren und fanden nach Rorschach zurück.

Nach dem Rückweg fuhren sie voller Stolz nachhause und zeigten den Eltern ihre Bestätigung vom Bürgermeister von Nonnenhorn. Sie waren jedoch alles andere als begeistert. «Wir haben ziemlich Ärger bekommen», erzählt Graf. Aber gelohnt habe es sich allemal: «Dieses Erlebnis werde ich nie mehr vergessen.»

Ein älterer Mann steht draussen, hinter ihm sieht man den Bodensee in der Ferne.
Legende: Josef Graf in seinem Garten mit Aussicht auf den Bodensee. SRF

Kurz nach Josef Grafs Abenteuer stand ein Schulausflug mit der Klasse an. Viele Kinder bekamen in dieser Zeit frei, um die Seegfrörni mitzuerleben. Und wohin ging der Ausflug? Nach Nonnenhorn! «Meine Schulkameraden staunten, als ich ihnen sagte, dass ich schon dort war», sagt Graf und schmunzelt.

Mit dem Car fuhren die Schülerinnen und Schüler nach Nonnenhorn und spazierten vier Stunden über den See wieder nach Rorschach. Hier entstand das einzige Foto, welches Josef Graf noch von der Seegfrörni hat. «Die Seegfrörni war ein unglaubliches Erlebnis, das wir – ich in meinem Alter sowieso nicht – wahrscheinlich nie mehr erleben werden.»

Täglich Holzsteg mit Kettensägen befreit

Zwei warm eingepackte Mädchen beim Utoquai. Schwarz/Weiss Fotografie
Legende: Annelies Hauri-Wiss (rechts) und ihre Schwester beim Schlittschuhlaufen vor dem Utoquai in Zürich im kalten Winter 1962/63. zvg/Annelies Hauri-Wiss

Annelies Hauri-Wiss war 17 Jahre alt, als der Zürichsee 1963 zufror. «Täglich konnte man zuschauen, wie das Eis wuchs. Das war fantastisch!», schwärmt die Zürcherin. Ihr Vater hatte eine Bootsvermietung am Utoquai beim Zürcher Seefeld.

Anneliese Hauri-Wiss vor der ehemaligen Bootsvermietung ihres Vaters am Utoquai. Zürich im Hintergrund.
Legende: Annelies Hauri-Wiss vor der ehemaligen Bootsvermietung ihres Vaters am Utoquai. SRF

Hauri-Wiss und ihre Schwester mussten neben ihrer Ausbildung viel im Betrieb mithelfen. Besonders viel zu tun hatten sie allerdings während der Seegfrörni. Die Holzstege wurden von Fässern getragen. Da das Eis drohte, die Fässer zu zerdrücken, musste die Familie täglich die Eisdecke mit Kettensägen aufsägen und die schweren Eisblöcke aus dem Wasser heben.

Die Seegfrörni war das Schönste, was ich je erlebt habe. Es ist wirkliche eine wunderbare Erinnerung.
Autor: Annelies Hauri-Wiss Zeitzeugin Seegfrörni

Neben der schweren Arbeit hatte Annelies Hauri-Wiss aber auch viel Spass auf dem zugefrorenen Zürichsee. Ihr Vater – ein gelernter Bootsbauer – baute über Nacht mehrere Eissegler. Er verwendete dafür Kufen von Schlittschuhen und Segel von herkömmlichen kleinen Segelbooten. Damit segelte die Siebzehnjährige auf dem Zürichsee umher. Mühsam fand sie dabei nur, dass ständig etwas im Weg war: Menschen, Hunde und sogar Essensstände.

Ein Eissegler auf der zugefrorenen Zürcher Seebucht
Legende: Der Eissegler von Heinrich Wiss, dem Vater von Annelies Hauri-Wiss. Mit diesem Gerät fuhr die Familie auf dem Zürichsee umher. zvg/Annelies Hauri-Wiss

Zu ihrer Lehrstelle in einem Kaufhaus an der Bahnhofstrasse fuhr Annelies Hauri-Wiss während dieser Zeit mit den Schlittschuhen über den See. Die Schuhe versteckte sie jeweils am Seeufer und ging die restlichen Schritte zu Fuss.

Generell, sagt die heute 77-Jährige, sei die Zeit ein grosses Gaudi gewesen. «Die Seegfrörni war das Schönste, was ich je erlebt habe. Es ist wirkliche eine wunderbare Erinnerung», sagt sie und strahlt. Sie habe nie wieder etwas Vergleichbares erlebt. Der Winter 1962/63 sei für sie eine unvergessliche Zeit gewesen.

Gestrandet auf der anderen Seeseite

Vor Rohrschach SG sammeln sich die Menschen auf dem zugefrorenen Bodensee.
Legende: Vor Rohrschach SG versammeln sich die Menschen auf dem zugefrorenen Bodensee im Januar 1963. Keystone

Als junger Lehrer in Rüti (ZH) wollte Richard Spoerri im Februar 1963 gerne das Spektakel des zugefrorenen Bodensees erleben. Da er den Mittwochnachmittag frei hatte, brach er gegen Mittag nach Romanshorn auf, um von dort nach Nonnenhorn auf der deutschen Seeseite zu wandern. «Es waren so viele Leute auf dem See, man hatte fast das Gefühl, es sei eine Völkerwanderung mit Gegenverkehr», sagt Spoerri.

Ich sah Leute ins Flugzeug steigen und dachte, das könnte meine Rettung sein.
Autor: Richard Spoerri Zeitzeuge Seegfrörni

In der Mitte des Sees traf er auf eine Kuriosität. Ein junger Mann hatte ein Zelt aufgestellt, sass gemütlich auf einem Campingstuhl und las. Um sein Zelt standen viele Wein- und Bierflaschen, sowie ein Schild mit der Aufschrift «Ice Camping 1963».

Ein Mann stellt auf dem zugefrorenen Bodensee ein Zelt auf, er raucht dabei Pfeife.
Legende: Während der Seegfrörni 1963 haben mehrere Leute auf dem zugefrorenen Bodensee im Zelt geschlafen. zvg/Josef Graf

Nach drei Stunden erreichte Richard Spoerri Nonnenhorn und setzte sich in ein Restaurant. Allmählich kamen ihm Zweifel, denn der Nachmittag war schon weit fortgeschritten und vor ihm lag noch der lange Rückweg. Der Wirt meinte, es gebe keine Zugverbindung in die Schweiz, sodass sich Spoerri mit einem unguten Gefühl wieder auf den Weg über das Eis machte.

Junger Mann auf Foto
Legende: Richard Spoerri als junger Mann. zvg/Richard Spoerri

Doch dann kam die Rettung. Spoerri sah ein Kleinflugzeug, dessen Pilot gerade dabei war, den Start vorzubereiten. «Ich sah Leute ins Flugzeug steigen und dachte, das könnte meine Rettung sein», sagt er und wirkt heute noch erleichtert über diese unerwartete Wendung. Nach einem kurzen Sprint konnte er den jungen Piloten überzeugen, ihn für 25 Deutsche Mark nach Rorschach mitzunehmen.

Richard Spoerri in seinem Wohnzimmer in Meilen ZH
Legende: Zeitzeuge Richards Spoerri kann sich noch gut an die Seegfrörni 1963 erinnern. Er war damals auch auf dem Bodensee unterwegs. SRF

Allzu nah an der Schweizer Bodenseeküste wollte der deutsche Pilot jedoch nicht landen, denn die Grenze zwischen Deutschland und der Schweiz sei auf dem See völkerrechtlich nicht festgelegt.

Ein Flugzeug auf dem zugefrorenen See
Legende: Auf dem zugefrorenen Bodensee landeten mehrere Flugzeuge. Wie hier im Hafen von Lindau im Februar 1963. Keystone/STR

Die kurze Strecke von anderthalb Kilometern machte Richard Spoerri dann aber nichts mehr aus. Erleichtert bestieg er den Zug zurück nach Rüti, wo er am nächsten Tag wieder unterrichten musste.

Radio SRF 3, Morgen, 30.01.2023, 07:20 Uhr

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