«Dornröschen kann kein Prinz sein»
Ich weiss noch nicht, welchen Satz meine Gäste in die Sendung mitbringen werden. Meiner wäre: «Ein Prinz kann Dornröschen und noch ärgeres heiraten, aber Dornröschen kann kein Prinz sein.» Wie so viele Sätze Kafkas, die sich mir einprägten, stammt er aus den Tagebüchern. Dort verhandelte Kafka sich und seine Literatur mit dem Besteck eines Meisteranalytikers. Gnadenlos legte er Widersprüche frei. Zum Beispiel, dass er heiraten wollte, die Ehe aber als Bedrohung für sein Schreiben und auch sonst nicht als geheuer empfand.
So schrieb er also über Felice Bauer, seine zweimalige Verlobte während fünf Jahren: «Wenn F. den gleichen Widerwillen vor mir hat wie ich, dann ist eine Heirat unmöglich» und folgert dann, dass Dornröschen kein Prinz sein könne. Vordergründig geht es beim Dornröschen- Prinz-Satz um traditionelle Rollenbilder – eine Frau damals wurde geheiratet. Sie schlief in ihrem Turm, bis die Dornen den Weg für einen Prinzen freigaben. Und dieser sollte dann natürlich nicht als Erstes sagen: «Bitte erlöse mich.» Er hatte zu erlösen.
«Dornröschen kann kein Prinz sein» enthält aber auch etwas Allgemeingültiges. Es geht um Hoffnungen, Wünsche, Erwartungen, die wir haben, wenn wir uns verlieben und die einer Beziehung gründlich im Weg stehen können. Kafka formulierte es zwar selbstironisch, aber er war ein Leben lang auf der Suche nach Erlösung. Gleichzeitig zog er aus seinen Dilemmata den Stoff für seine Literatur. «Meine Gefängniszelle – meine Festung», notierte er einmal in sein Tagebuch.
Von Prag nach Berlin
Franz Kafka war ein kompromissloser Künstler in einer schwierigen Zeit. Der Erste Weltkrieg machte seine Pläne zunichte, sich endlich von Prag zu lösen. Schon tuberkulosekrank wagte er es doch. Mit seiner letzten Liebe, Dora Diamant, zog er 1923 nach Berlin. An Milena Jesenská, eine ehemalige Liebe, schrieb er: «Ich lebe fast auf dem Land, in einer kleinen Villa mit Garten, es scheint mir, dass ich noch niemals eine so schöne Wohnung hatte, ich werde sie gewiss auch bald verlieren, sie ist zu schön für mich.»
Durch die rasch voranschreitende Inflation gerieten Franz Kafka und Dora Diamant in finanzielle Not. Kafka war gezwungen, Bettelbriefe an Eltern und Schwestern zu schreiben. Dass er trotz dauerndem Kranksein aus finanziellen Gründen keinen Arzt aufsuchte, wurde ihm zum Verhängnis. Am 3. Juni 1924 starb er in der Lungenheilstätte Kierling bei Klosterneuburg an einer nicht mehr therapierbaren Kehlkopftuberkulose. Er wurde vierzig Jahre alt.
Zwischen Mut und Verzweiflung
Bis fast zuletzt schrieb er an einer Erzählung, der sein Freund Max Brod posthum den Titel «Der Bau» gab. Sie blieb unvollendet und handelt von einem namenlosen Tier, das sich mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln eine sichere Wohnstatt errichtet und plötzlich mit einem bedrohlichen Geräusch konfrontiert ist. Herzergreifend schildert Kafka, wie es ist, sich in Plänen und Überlegungen zu verrennen, zwischen Mut und Verzweiflung zu pendeln und vor dem Tod und dem Leben gleichermassen Angst zu haben. Müsste ich zum Lieblingssatz auch noch einen Lieblingstext wählen, wäre es «Der Bau».
Programm
- 19.30 Uhr: Eintreffen der Gäste im Auditorium des SRF Studio Basel
- 20 Uhr: Live-Sendung «Passage» mit Fragerunde
- 21.30 Uhr: Ende der Veranstaltung
Wir freuen uns, wenn Sie bei der Live-Sendung «Passage» zum 100. Todestag von Franz Kafka im SRF Studio Basel dabei sind.