Schweizer Geschichte neu gedacht
Die intensive Aufarbeitung der kolonialen Vergangenheit der Schweiz ist seit einem Vierteljahrhundert in Gang. Sie hat jüngst in die grosse Ausstellung im Zürcher Landesmuseum «kolonial. Globale Verflechtungen der Schweiz» gemündet. Bei ihrer Eröffnung sagte Bundesrätin Baume-Schneider, die Schweizer Beteiligung am kolonialen System habe «überall ein bisschen» stattgefunden. Um dann fortzufahren:
Überall ein bisschen: Das ist in der Summe ziemlich viel.
Die Bewusstwerdung, dass auch unser Land mit Sklaverei, Sklavenhandel und Rassismus verknüpft gewesen ist, geschieht nun immer mehr auch auf lokaler Ebene. In verschiedenen Schweizer Städten (Basel, Winterthur, Bern, Zürich, Neuenburg, Genf) gibt es mittlerweile Stadtrundgänge auf den Spuren dieser «shared history»: Geschichte wird hier als eine mit den Nachkommen der Kolonisierten geteilte Erzählung aufgefasst, wobei immer auch versucht wird, nicht nur Opfergeschichten zu erzählen, sondern auch solche von Solidarität, Widerstand und dem Einsatz für Menschenrechte. Und sogar Kleinstädte und Dörfer in ländlichen Regionen (z. B. im Engadin) entdecken ihre Vergangenheit neu.
Koloniale Geschichte(n) St. Gallens
In St. Gallen bietet seit 2019 der Historiker Hans Fässler solche Rundgänge (und Velorundfahrten) auf kolonialen Spuren an. Er gehört mit seinem Buch «Reise in Schwarz-Weiss. Schweizer Ortstermine in Sachen Sklaverei», das er 2005 herausbrachte, zu den Pionieren dieser Forschungsrichtung. Und er kennt die Stadt ziemlich gut: Von seinen 71 Jahren hat er 70 hier verbracht.
Unser Rundgang beginnt am St. Galler Bahnhof und behandelt in elf Stationen nicht nur koloniale, sondern auch Architektur-, Textil und jüdische Geschichte sowie auch die Zeit vor und während des zweiten Weltkriegs. Wir lernen Häuser, Fassaden, Reliefs, Denkmäler und Strassennamen neu lesen und lernen St. Gallen als eine Stadt mit einer vielfältigen Vergangenheit (und Gegenwart) kennen.
Die letzte Station ist der Innere Klosterhof, wo es auch im Schatten der Kathedrale koloniale Geschichte(n) zu erzählen gibt.
Die Rolle der Textilstadt St. Gallen
Nach dem Mittagessen erwartet uns im Textilmuseum die Direktorin Mandana Roozpeikar. Sie führt in die neue Dauerausstellung ein. Im Grünen Saal liegt der Schwerpunkt auf den globalen Verflechtungen der Textilindustrie allgemein und St. Gallens im Besonderen. Im Gespräch werden Mandana Roozpeikar und Hans Fässler Schwierigkeiten und Herausforderungen einer dekolonialen Darstellung diskutieren.
Dabei wird es nicht nur um das klassische Sklavereiprodukt Baumwolle gehen, sondern auch um die teils noch unerforschte koloniale Verflechtung der für St. Gallen prägenden Leinwand.
In der abschliessenden Lesung hören wir Passagen aus dem Roman «Die Sticker» von Elisabeth Gerter. Dieser erste grosse Industrieroman der Schweiz wurde 1938 veröffentlicht. Er spielt an allen Fronten: in ärmlichen Sticklokalen, in Fabriken, Exporthäusern und an der Stickereibörse. Menschen aus allen gesellschaftlichen Sphären spielen darin ihre Rolle: Fabrikanten und Exporteure, Politiker und Verbandssekretäre, Arbeiter und Bauern. Gerter schildert in realistischer Weise die Nöte der Fabrik- und Heimarbeiterinnen und -arbeiter in der Ostschweizer Textilindustrie und zeigt deren gewerkschaftliche Kampfmittel auf.
Konzipiert und begleitet wird der Tag von Martina Kuoni, Germanistin und Literaturvermittlerin, Basel (literaturspur.ch) und Hans Fässler, Historiker, St. Gallen.
Programm
- 10 Uhr: Treffpunkt am Bahnhof St. Gallen
- 10–12 Uhr: Spaziergang «Auf den Spuren von Kolonialismus und Rassismus» (Hans Fässler)
- 12.15–13.30 Uhr: Mittagessen in der Brasserie Lok (Kulturzentrum Lokremise)
- 13.45–15 Uhr: Besuch des Textilmuseums, Führung und Gespräch (Mandana Roozpeikar und Hans Fässler)
- 15.15–16 Uhr: Lesung aus dem Roman «Die Sticker» (1938) der St. Gallerin Elisabeth Gerter und aus einer Erzählung eines versklavten Menschen in Alabama (um 1840) (Martina Kuoni)
- Ca. 16.15 Uhr: Ende des Streifzugs am Bahnhof St. Gallen
Konzipiert und begleitet wird der Tag von Martina Kuoni, Germanistin und Literaturvermittlerin, Basel (literaturspur.ch) und Hans Fässler, Historiker, St. Gallen.