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Digital Die EU-Kommission will dem digitalen Patchwork an den Kragen

Die EU ist ein einziger Binnenmarkt. In der physischen Welt ist er weitgehend umgesetzt, in der digitalen Welt hingegen wurstelt jeder Staat für sich selber mit eigenen digitalen Gesetzen und Einschränkungen. Die EU-Kommission findet diesen Zustand unhaltbar und will ihn rasch ändern. Schön wär's!

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Gespräch in der Sendung «Rendez-vous» 6.5.2015
04:15 min
abspielen. Laufzeit 4 Minuten 15 Sekunden.

Heute hat die EU-Kommission 16 Vorstösse verkündet, wie sie einen einheitlichen digitalen EU-Markt schaffen will.

Es ist die Reaktion auf ein altbekanntes Problem: Denn im Gegensatz zum physischen EU-Markt ist der digitale Markt durch die unterschiedlichen Gesetzgebungen der Mitgliedstaaten zerstückelt. Das erschwert den Zugang der Anbieter und Dienstleister zum gesamten Wirtschaftsraum, kostet sie Nerven – und vor allem Geld.

Auch für die Konsumenten ist das Gesetzes-Patchwork kostspielig. Sie können nicht immer bei dem Händler einkaufen, der das Produkt oder die Dienstleistung am günstigsten anbietet. Die EU-Kommission schätzt, dass Konsumenten dadurch fast 12 Milliarden Euro pro Jahr zu viel ausgeben würden.

Noch schlimmer: Oft kommt es gar nicht dazu, dass ein EU-Bürger Geld ausgibt – weil er schlichtweg nicht kann. Ist ein digitales Produkt in seinem Land nicht erhältlich, wird der Konsument quasi «gezwungen», zum «Piraten» zu werden und sich einen Film, den es im Nachbarland zum Beispiel auf Netflix gäbe, illegal herunterzuladen.

Das EU-Staaten-Denken im digitalen Bereich hat noch weitere Auswirkungen, so zum Beispiel:

  • Mobilfunk: Wer sein Handy in einem anderen EU-Land benutzt, bezahlt höhere Gebühren als zu Hause.
  • Share-Economy: Mobilitätsdienste wie Uber müssen ihren Dienst je nach Land in verschiedenen Formen anbieten: Je nach Gesetzeslage dürfen nur lizenzierte Taxifahrer beim Dienst mitmachen oder aber auch Privatpersonen, die nur einen normalen Fahrausweis besitzen.
  • Online-Händler: Je nachdem, in welchem EU-Land sie sich befinden, haben sie verschieden lange Spiesse. Eine deutsche Online-Apotheke muss beispielsweise für den Versand eines gängigen Entwurmungsmittels für Hund und Katze ein Rezept verlangen. Ein Mitbewerber aus den Niederlanden versendet das selbe Produkt einfach so.

Harmonisieren!

Abhilfe bringen soll die Digitalstrategie. Sie ist ein Schwerpunkt der EU-Kommission und schon seit längerem auf deren Agenda.

Das grosse Stichwort heisst «Harmonisierung»: Sie soll die bekannten Probleme lösen, zum Beispiel im Konsumentenschutz oder im Urheberrecht. Ganz abschaffen will die EU-Kommission das Geoblocking, also das Sperren bestimmter digitaler Inhalte in einzelnen EU-Ländern.

Die Digitalstrategie soll aber nicht nur die Harmonisierung der Märkte bringen, sondern auch die Wirtschaft fördern und dafür sorgen, dass Europa im Internet-Zeitalter mit den USA und China mithalten kann. Dort gibt es bereits digitale Einheitsmärkte.

Umsetzung bis Ende 2016

Die EU-Kommission verspricht, bis Ende 2016 das Urheberrecht und den Onlinehandel zu harmonisieren. Ein ambitioniertes Ziel – oder wohl eher ein unmögliches Ziel? Gerade beim Urheberrecht ist es so sicher wie das Amen in der Kirche, dass die Widerstände und Mitsprache-Forderungen der Industrie gross sein werden und sich einzelne Mitgliedsländer quer stellen werden.

Äusserst unwahrscheinlich ist, dass sich zum Beispiel die Franzosen etwas in ihrer Regelung des Urheberrechts vorschreiben lassen: Schon seit Jahren fahren sie ihre eigene Linie. Und wenn es zu Einlenkungen kommt, dann wohl nur, wenn die EU-Kommission Ausnahmeregelungen vorsieht. Das würde allerdings der eigentlichen Idee eines einheitlichen Marktes widersprechen.

Kein Zentrum für digitale Innovationen

Die EU-Kommission will mit ihren Vorschlägen auch die Innovationskraft der digitalen Wirtschaft fördern. Um dieses Ziel zu erreichen, wäre aber nicht nur ein einheitlicher Markt wichtig: Denn die EU-Staaten sind viel dezentraler organisiert als zum Beispiel die USA. Dort hat das Silicon Valley – Weltzentrum für digitale Innovationen – über Jahrzehnte eine Innovationskultur hervorgebracht.

Start-ups in der EU werden sich hingegen auch in einem digitalen Einheitsmarkt überlegen müssen, ob sie sich in Paris, Berlin oder London ansiedeln. Ein europäisches Zentrum der vereinigten innovativen digitalen Köpfe wird es daher auch weiterhin nicht geben.

Die Schweiz muss nicht mitmachen

Umgekehrt ist es auch heute schon möglich, ohne den von der EU verordneten digitalen Einheitsmarkt erfolgreich zu sein. Das zeigt das Beispiel Zalando. In der ganzen EU ist der Online-Händler aktiv und erfolgreich – inklusive dem Nicht-EU-Land Schweiz.

Die hat übrigens nicht automatisch etwas von der EU-Digitalstrategie: Es gibt kein bilaterales Recht zum autonomen Vollzug, das die Schweiz zwingen würde, bei den Harmonisierungen nachzuziehen.

Die EU-Digitalstrategie: Viel mehr als ein Papier-Tiger ist sie nicht – aber immerhin digital abrufbar.

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