«Schau», sagt Martin und greift in seine Tasche. Er zieht einen kleinen Rock heraus. Blau ist er mit kleinen weissen und roten Blumen. «Dieses Kleid trug meine Tochter an der Beerdigung. Es ist winzig.» Drei Jahre alt war seine jüngste Tochter, als seine Frau Alexandra 35-jährig den Kampf gegen den Krebs verlor. Die beiden anderen sieben und zwölf.
Dieses Kleid trug meine Tochter an der Beerdigung. Es ist winzig.
Martins Stimme zittert, wenn er über seine Töchter spricht. Aber er will seine Geschichte erzählen. Weil er sich wünscht, dass verwitwete Männer in der Gesellschaft sichtbarer werden, dass sich mehr Leute bewusst werden: «Es gibt diese Fälle.» Denn ihm hat in der schwierigsten Zeit seines Lebens oft das Verständnis des Umfelds gefehlt.
Leben bedeutete nach dem Tod von Alexandra plötzlich nur noch Funktionieren – Gefühle ausschalten und die Familie durch den Alltag bringen, ein Berg Bürokratie abarbeiten und den Schmerz der Kinder tragen. «Es war ein Hürdenlauf mit Hürden, die zu hoch sind.» Die eigene Trauer blieb dabei auf der Strecke. «Da war ein Schmerz in der Seele, eine Verbrennung. Die liess nicht mehr nach. Monatelang.»
«Das System federt Witwer nicht genug ab»
Martin musste sich entscheiden: Entweder viel arbeiten und viel Geld für die Kinderbetreuung ausgeben. Oder Zeit. Er entschied sich für die Zeit. Dank seines aufgeschlossenen Arbeitgebers konnte er sein Pensum auf 50 Prozent reduzieren. «Ich wollte nicht, dass meine Kinder auch noch ohne Vater aufwachsen müssen».
Doch das hiess: Wenig Geld. Martins Frau war Vollzeit-Hausfrau, dementsprechend tief war die Rente der Pensionskasse. Von der AHV bekam er Fr. 2400.-. «Da ist der Wurm drin!», sagt er. «Das System federt Witwer nicht genug ab.»
Im ersten Jahr nach dem Tod seiner Frau, sagt Martin, spürte er keine Hoffnung, sah kein Licht: «Ich hätte einen Ferrari bekommen können, Freude hätte es mir nicht gemacht.» Geholfen hat ihm in dieser Zeit AURORA, die Informations- und Kontaktstelle für Verwitwete mit minderjährigen Kindern. Ein Verein, der Betroffene vernetzt und Ausflüge oder Ferien organisiert. «Da habe ich mich zum ersten Mal verstanden gefühlt.»
Die Ohnmacht des Umfelds
Aber auch praktische Hilfe aus seinem Umfeld gab ihm etwas Luft in dieser dunklen Zeit. Nachbarn, die ihm in den ersten Monaten fraglos Essen vorbeibrachten oder Wäsche wuschen. Freunde, die einfach zuhörten – keine Ratschläge, kein Schönreden.
Trotzdem spürte Martin sie viel zu oft, die Ohnmacht in seinem Umfeld. «Ich wurde oft als Aussätziger behandelt. Viele dachten, ich mache und sage besser nichts, dann mache ich nichts falsch». Hinter dem Gestell im Migros verstecken oder die Strassenseite wechseln.
Dass ein alleinerziehender Vater auch wertvoll sein könnte, ist vielen nicht klar.
Ganz besonders schlimm fand er, dass er oft spürte: «Du bist ja nur der Vater». Martin fühlte sich oft allein. In seinem Umfeld waren die Mütter untereinander gut vernetzt. Als alleinerziehender Vater war er ein Exot und fand nicht rein. «Jemand fragte mich sogar: ‹Wäre es nicht besser, du wärst gestorben und die Mutter noch am Leben?› Vermutlich ja, antwortete er. Aber er habe ja nicht wählen dürfen. «Dass ein alleinerziehender Vater auch wertvoll sein könnte, ist vielen nicht klar.»