Eine Woche ist es nun her. Flug TK1910 landet pünktlich in Istanbul. Meine Frau checkt die Anzeigetafel für unseren Anschlussflug nach Manila. «Da stimmt was nicht» sagt sie. Ich unterbreche die Albereien mit meiner 15 Monate alten Tochter. Kurz darauf wissen wir, was die Welt seit zwei Stunden weiss: Putschisten versuchen, den Atatürk-Flughafen unter ihre Kontrolle zu bringen. Wir stecken fest.
Panik
Es ist gespenstisch still am Flughafen. Keine Durchsagen. Kein Fluglärm. Kaum Rollkoffergeräusche. Geschäfte werden abgesperrt. Wir versuchen, Wasser und Brot zu kaufen. Das Verkaufspersonal ist verschwunden. Von Flughafenangestellten kriegen wir das OK, uns mit Wasser und Sandwiches einzudecken. Hin und wieder bricht Panik aus. Leute rennen, schreien, fliehen. Oft bleibt unklar, wovor. War das die Druckwelle einer Bombe? Oder doch nur der Knall eines vorbeifliegenden Kampfjets? Wir wissen es nicht. Klar ist: Schon das Geräusch eines umkippenden Koffers kann in dieser Situation zu einer Massenpanik führen.
Sing ihr etwas vor
Als wir zum zweiten Mal schutzsuchend hinter einer Theke kauern, schaut mir meine Frau in die Augen und sagt leise aber bestimmt «Sing ihr etwas vor». Erst jetzt realisiere ich, dass ich seit unserer Ankunft in Istanbul keinen Ton Musik gehört habe. Aus keinem Handy zirpen Songs. Niemand öffnet seinen Gitarrenkoffer. Keiner setzt sich an den einsam dastehenden Flügel. Niemand singt. Niemand pfeift. Vielleicht wird leise gesummt. So, wie ich jetzt summe. «Bajuschki baju» auf den Lippen. Im Kopf die Frage nach dem gegenwärtigen Feind der Musik.
Wer hat uns die Musik genommen?
Die Antwort darauf ist so einfach wie traurig. Während bei Naturkatastrophen oder Unfällen gesungen wird und Musik hilft, will in dieser Situation jegliches Lenken von Aufmerksamkeit auf die eigene Person vermieden werden. In Istanbul wusste niemand, was als nächstes passieren würde. Aber jedem war klar, dass er dabei keine Rolle spielen wollte.
Die Lieder der Sieger
Es ist Samstag Vormittag. Der Flughafen ist kein Gefängnis mehr. Wir beschliessen, in ein nahegelegenes Hotel zu ziehen. Der Taxifahrer rast an Kundgebungen vorbei. Wir checken ein. Milch und Windeln müssen her. Auf dem Weg zum Supermarkt dröhnen Lieder aus mit türkischen Fahnen geschmückten Autos. Sie interessieren mich nicht. Ich bin nicht auf der Suche nach dem Soundtrack der vermeintlich geretteten Demokratie. Ich bin auf der Suche nach Windeln. Die ist, ausserhalb des Flughafens, erwartungsgemäss ein Kinderspiel.
Unsere Lieder
Ebenso einfach gestaltet sich der spätere Griff zum iPad und das Anwählen der im Moment dringend benötigten Musik: «Nur hie und da i einer Rueh, macht’s z’Schnörre uf und wieder zue». Die Lieder der Schlieremer Chind bringen fürs Erste eine Prise Sorglosigkeit in eine Familie, die sich diese Reise anders vorgestellt hat. Für einen kurzen Moment lenken sie ab von den Gedanken an andere Familien, die an diesen Ereignissen länger zu beissen haben werden als wir.
Nach dem 15. Juli 2016 werde ich sie mir wieder zurückholen müssen – die naive Vorstellung, dass nichts und niemand die Macht hat, Musik zum Schweigen zu bringen. Ich will das Gefühl dieser Vorstellung wieder erreichen. Bei vollem Bewusstsein, dass es nicht die ganze Wahrheit ist – für mich aber die richtige.