Vor 50 Jahren erschien das Debütalbum der britischen Metal-Pioniere Judas Priest. Kunstdozent Jörg Scheller im Interview über Heavy Metal und Homosexualität, den ESC und Nemo und weshalb Crossdressing schon immer Teil der Popwelt war.
SRF: Wie offen respektive wie konservativ ist die Heavy Metal-Welt?
Jörg Scheller: Die angeblich hypermaskuline Metalwelt war schon immer ein Klischee und widerspiegelte nie die Realität. Bei Rob Halford wussten viele schon lange vor seinem Outing Bescheid über seine sexuelle Orientierung. Es war einfach allen egal. Das ist typisch für den Metal, nach aussen gibt man sich stark, männlich, hart. Nach innen ist man relativ tolerant.
Die Hairmetal-Szene in den 80ern mit Bands wie Mötley Crüe oder Poison gab sich äusserlich feminin, gebärdete sich aber machohaft. Was ist das für ein Phänomen?
Hairmetal ist ironischerweise das Hochamt des Machismo. Mit ihren Outfits sagten sie: Wir können uns queer oder weiblich kleiden und gleichzeitig die absoluten Womanizer sein. Schminke, auftoupierte Haare, Leggins, diese weiblich konnotierte Ästhetik schadet unserer Männlichkeit nicht.
Es beginnt in den Nischen und wandert langsam in den Mainstream.
Little Richard kleidete sich in den 60ern als Dragqueen, Prince trat in den 80ern in Strapsen auf. Heute trägt Harry Styles Röcke und Perlenketten. Weshalb ist Crossdressing ein beliebtes Stilmittel in der Musikwelt?
Vieles was in den 60ern und 70ern losgetreten wurde, ist bis heute aktuell. Zum Beispiel das Spiel mit den Geschlechtern, mit queeren Outfits. Diese Strömungen kommen immer wieder. Wir leben in zyklischen Konsumkulturen. Trends werden gesetzt und wieder durchbrochen. Mal sind es queere Phasen, dann folgt wieder ein konservativer Backlash und Männer lassen sich Bärte wachsen. Momentan ist wieder Crossdressing angesagt.
Auch Freddie Mercury von Queen trug Frauenkleider, konnte sich jedoch – anders als Rob Halford von Judas Priest – nie zu einem Coming-out durchringen. War die Metalwelt toleranter als die Popwelt?
Die wenigsten Leute wollen ihre sexuelle Identität nach aussen tragen. Freddie Mercury wollte nicht «der schwule Rockstar» sein, sondern in erster Linie Künstler. Auch Rob Halford hatte nach seinem Outing Angst vor Stigmatisierung. Man prophezeite seiner Band Judas Priest das Ende, sollte er sich outen.
Auch Elton John hielt seine Homosexualität jahrelang geheim. David Bowie, der in den 70ern Androgynität und Crossdressing zelebrierte, gab sich in den 80ern plötzlich bürgerlich und heiratete eine Frau. War der Mainstream damals noch nicht bereit dafür?
Es beginnt in den Nischen und wandert langsam in den Mainstream. Homosexualität war früher in gewissen Subkulturen akzeptiert, aber nicht in der Mitte der Gesellschaft. Das hat sich verändert. Taylor Swift setzt sich für Homosexuelle ein, der ESC ist ein absoluter Mainstream-Event. Die Ehe für alle wurde 2021 vom Schweizer Stimmvolk deutlich angenommen. Wir leben in einer der liberalsten Gesellschaften aller Zeiten.
Allerdings gibt es auch einen Backlash. In den USA kippte der oberste Gerichtshof 2022 das Abtreibungsrecht. Auch gegen den ESC in der Schweiz gibt es Widerstand aus konservativen Kreisen. Wie deuten sie solch antilberale Strömungen?
Diese Debatte unterfordert uns als Gesellschaft. Dass es Menschen gibt zwischen den Geschlechtspolen Mann und Frau, ist erwiesen. Die Nemo-Debatte macht eigentlich nur sichtbar, was schon immer existierte. Menschen, die sich selbst nicht in einem binären Szenario wiederfinden.
Das Gespräch führte Dominic Dillier.