Vor kurzem hat mir ein Freund folgende Geschichte erzählt: Ein Hochzeitspaar wünscht sich von allen Gästen «Win for Life-Lose». Die Gäste kommen aus allen Landesteilen und bringen Lose mit.
Nach der Hauptspeise rubbeln sie alle gemeinsam. Und plötzlich kreischt jemand: «Ein Hauptgewinn!». Die Gäste rubbeln weiter. Dann – ein weiterer Hauptgewinn. Heisst: 8000 Franken, jeden Monat. Für die nächsten 20 Jahre. Was für ein tolles Hochzeitsgeschenk. Mein Freund war selbst nicht dabei, aber eine Bekannte von ihm.
Dem Leben in der Schweiz auf der Spur – mit all seinen Widersprüchen und Fragen. Der Podcast «Input» liefert jede Woche eine Reportage zu den Themen, die Euch bewegen. Am Mittwoch um 15 Uhr als Podcast, sonntags ab 20 Uhr auf Radio SRF 3.
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Erzählung als sozialer Kitt
Wir kennen alle solche Geschichten, die einem Freund von einem Freund von einem Freund passiert sind. Und das ist das offensichtlichste Indiz, um eine moderne Sage zu entlarven, sagt die Literaturwissenschaftlerin und Erzählforscherin Brigitte Frizzoni von der Uni Zürich: «Nahe genug, um die Person nachverfolgen zu können. Aber doch weit genug entfernt, dass man es dann doch nicht tut.» Die Geschichten bleiben stets im Vagen, aber glaubwürdigen und plausiblen Bereich.
Ein weiteres Merkmal ist Einfachheit: ein simpler Plot, nur ein Erzählstrang, klare Situation, klare Figuren – die Geschichte lässt sich so sehr gut ausbauen und anpassen. Zurückverfolgen zum Ursprung lassen sich moderne Sagen eigentlich nie. Aber das spielt meistens auch keine Rolle.
Wir Menschen sind erzählende Wesen, homo narrans. Wir brauchen gute Geschichten.
Wir erzählen sie weiter, ohne zu hinterfragen, weil wir sie glauben wollen. Oder einfach, weil es gute Geschichten sind, sagt Brigitte Frizzoni. «Wir Menschen sind erzählende Wesen, homo narrans. Wir brauchen gute Geschichten. Damit schaffen wir Beziehungen zueinander. Das ist sozialer Kit.»
Die Erzählforscherin unterscheidet zwei verschiedene Arten von modernen Sagen. Die optimistischen auf der einen Seite. Sie kommen daher wie ein guter Witz. Kurz und knapp, mit einer guten Pointe. Auf der anderen Seite stehen Geschichten, die mit unseren Ängsten operieren.
«Willkommen im AIDS-Club»
Eine der berühmtesten modernen Sagen rauschte in den 1980ern und -90ern wie ein Lauffeuer durch die Welt. Sie handelt von einer jungen Frau, die in Griechenland in den Ferien einen Mann kennenlernt. Die beiden geniessen den Ferienflirt mit allem, was dazugehört, auch Sex. Nach zwei Wochen verabschieden sie sich und der Lover übergibt ihr ein Päckchen. Sie solle es erst im Flugzeug öffnen, sagt er. Und als sie im Flugzeug sitzt, öffnet sie es. Darin findet sie eine tote Ratte und einen Zettel: «Willkommen im AIDS-Club.»
Diese Geschichte existiert in unzähligen Varianten an unzähligen Orten. Mal piekst ein Verrückter mit einer infizierten Spritze wahllos Leute in einer Disco und klebt einen Zettel an deren Rücken. Mal ist es eine Spritze im Kinosessel, auf die versehentlich jemand sitzt. Der gemeinsame Nenner ist die Nachricht: «Willkommen im AIDS-Club».
Die Angst in Form giessen
Für die Erzählforscherin Brigitte Frizzoni ist klar: Solche Geschichten sind Sensoren der Gesellschaft. Und Bewältigungsstrategien: «Es fällt uns leichter, mit beängstigenden Zeiten oder Situationen umzugehen, wenn wir die Angst in Form giessen können.» Auch wenn es «nur» eine Geschichte ist.
Es fällt uns leichter, mit beängstigenden Zeiten oder Situationen umzugehen, wenn wir die Angst in Form giessen können.
Übrigens: Die Geschichte mit den «Win for Life-Losen» ist tatsächlich eine moderne Sage. Swisslos bestätigt das auf Nachfrage. Sie haben unter den 107 Gewinnerinnen und Gewinnern kein Ehepaar, keine zwei Personen, die in derselben Region leben oder zu derselben Zeit gewonnen haben.