Normalerweise folgt hier eine Liste mit den 20 besten Serien des Jahres. So wie das 2021 der Fall war. Oder 2020 . Und als wir uns 2019 in den Kopf setzten, «nur» 19 Serien aufzulisten, mussten wir uns mehrere Tage lang den Kopf darüber zerbrechen, welche Serie als letztes aus unserer Liste herausgestrichen wird.
Dieses Jahr ist alles anders. Zwar wurden 2022 – zum vielleicht letzten Mal – so viele Serien produziert wie noch nie zuvor, über 600 nämlich. (Und wenn wir von «Serien» sprechen, reden wir von «klassischen» Serien mit Schauspielerinnen, Schauspielern und Drehbüchern. Reality-TV und Doku-Serien sind in dieser Zahl nicht mit inbegriffen.) Das mit der Qualitätskontrolle scheinen die meisten jedoch aufgegeben zu haben.
Scheinbar geht es den grossen Streamingplattformen dieser Welt nur noch darum, ihren Shareholderinnen und Shareholdern am Quartalsende neue Streaming-Rekorde präsentieren zu dürfen.
Da klingt es dann selbstverständlich ziemlich beeindruckend, wenn man damit angeben darf, wie viele Millionen Stunden die Kundschaft verbracht hat, Serienkiller Jeffrey Dahmer dabei zuzuschauen, wie er seine Opfer stalkt. Aber wenn am Ende einer Serie das Fazit «Hm, halb so viele Episoden hätten wohl auch gereicht!» bleibt, dann reicht das eben nicht für eine Bestenliste.
Und weil wir genau diesen Eindruck dieses Jahr ziemlich oft hatten, fällt unsere Auswahl der besten Serien dieses Mal schmaler aus als gewohnt.
So findet ihr in unserer diesjährigen Liste keine Serien, bei denen wir uns wie bei einer schlechten Vorband gefühlt und schon beim zweiten Lied gewünscht haben, dass der nächste Song als «unser letzter Song für heute!!» angekündigt wird («Dahmer – Monster: The Jeffrey Dahmer Story», «The Staircase»). Es gibt keine Serien, die ihr Finale vermasselt haben («The White Lotus», «The Patient», «Ozark»). Und Serien, die zu viele fucking Zeitsprünge eingebaut haben («House of the Dragon»), sind ebenfalls nicht dabei.
15. «The Lord of the Rings: The Rings of Power», Season 1
Milliarden von Amazon-Päckli mussten wir bestellen, damit sich Jeff Bezos endlich erbarmte, eine halbe Milliarde US-Dollar ( wenn man den Gerüchten glaubt... ) für eine Serie locker zu machen, nach der eigentlich gar niemand gefragt hat.
Das Ergebnis? Pretty Good! Wer die riesigen Welten von Tolkien mag und damit leben kann, dass hier jemand den eigentlich unmöglichen Versuch gestartet hat, den heiligen Texten von Tolkien ein paar neue Kapitel hinzuzufügen, wird in der ersten Staffel dieser phänomenal gut aussehenden Serie tonnenweise Gründe finden, wieso «Mittelerde» zu den spannendsten Fantasy-Welten aller Zeiten gehört.
Und wem das nicht passt, der oder die darf entweder: sich im Internet nonstop über die Existenz von «Rings of Power» beschweren... oder weiterhin, pünktlich zu Weihnachten, seine «Special Editions» der originalen Trilogie aus dem Regal nehmen und diese Serie einfach ignorieren.
Die komplette erste Staffel ist via Prime Video verfügbar. Eine zweite Staffel ist in Produktion für 2023.
14. «Stranger Things 4»
War die vierte Staffel «Stranger Things» zu aufgebläht? Ja. Musste die finale Episode wirklich zweieinhalb Stunden lang sein? Nein. Hätte man die ganze Staffel und die einzelnen Mini-Abenteuer (Hopper, Eleven) auch ein bisschen besser strukturieren können? Absolut.
Und trotzdem hat uns diese Sci-Fi-Hommage an alles, was in den 1980er-Jahren irgendwann einmal populär war, wieder genau das in die Stube gezaubert, was auch schon in den ersten drei Staffeln hervorragend funktioniert hat.
«Stranger Things» ist und bleibt – auch in seiner extralangen Variante – die ultimative Hangout-Show, lieferte uns dieses Jahr einen extrem denkwürdigen Bösewicht (Unser Boy Vecna!!!), sowie musikalische Momente, die sogar ein fast vierzig Jahre altes Meisterwerk wieder zurück an die Spitze der Hitparade katapultieren konnte. Was will man mehr?
Alle vier Staffeln sind via Netflix verfügbar. Eine fünfte und letzte Staffel ist in Produktion für 2023.
13. «Fleishman Is In Trouble»
Doktor Toby Fleishman hat ein Problem. Vor kurzem hat sich sich seine Frau Rachel von ihm scheiden lassen. Und eigentlich wäre es dieses Wochenende ja ihre Aufgabe, sich um die beiden gemeinsamen Kinder zu kümmern. Aber jetzt liefert Rachel die Kinder einen Tag früher als geplant ab... und verschwindet danach spurlos. Was ist bloss passiert?
Diese achtteilige Miniserie ist eine intelligente und humorvolle Beststeller-Adaption, welche mit Soap-Klischees flirtet, diese aber konstant zu umgehen weiss.
Ein Serien-Leichtgewicht – schliesslich gibt es hier weder zaubernde Zauberer noch fliegende Superheldinnen –, das mit einer wunderbaren Besetzung zu glänzen weiss: Jesse Eisenberg! Claire Danes! Ted von «How I Met Your Mother»?? Adam Brody aus «The O.C.», der schon wieder eine Figur namens Seth spielt?!?!?
Die komplette Miniserie wird bei uns voraussichtlich ab Februar 2023 via Disney+ verfügbar sein.
12. «Slow Horses», Seasons 1 & 2
Im «Slough House» versammelt sich ein Grüppchen Spione, welches sich bei den anderen Zweigen des britischen Geheimdienstapparates schwer unbeliebt gemacht hat. Und trotzdem schaffen es diese «Loser-Spione» immer wieder, in nervenaufreibende Kriminal- und Spionage-Fälle verwickelt zu werden. Denn: Gary Oldman und Spionage-Thriller, das funktioniert halt nicht nur auf der grossen Leinwand hervorragend, sondern auch im Serienformat.
«Slow Horses» basiert auf einer erfolgreichen Buchreihe, pro Staffel wird jeweils ein Buch adaptiert. Und weil diese Staffeln aus jeweils nur sechs Episoden bestehen, kann man es sich sogar leisten, gleich zwei, in sich geschlossene Staffeln pro Jahr rauszuhauen.
Beide Staffeln sind via Apple TV+ verfügbar. Zwei weitere Staffeln sind in Produktion für 2023 und 2024.
11. «Atlanta», Season 4
Auch «Atlanta», die unberechenbare Spielwiese von Multitalent Donald Glover (« This Is America ») und dessen Bruder Stephen, stieg dieses Jahr zwei Mal in den Ring.
Im Frühjahr präsentierte man eine experimentelle dritte Staffel, in welcher die Erlebnisse der vier Hauptfiguren regelmässig mit «Black Mirror»-mässigen Schauergeschichten unterbrochen wurden. Ein mutiges, aber nicht immer geglücktes Experiment.
Vor der wunderschönen vierten Staffel, für welche Glover & Co. in ihr Heimterritorium Atlanta zurückkehrten, kann man sich hingegen nur verneigen. Ein letztes Mal erzählte die «Atlanta»-Crew einzigartige Geschichten über alternde Hip-Hopper, teure Sneakers, oder Wassermeditationen. Jede Woche komplett anders, aber meistens lustig, immer irgendwie schräg – und mit einem der besseren Serienfinale aller Zeiten.
Drei Staffeln sind via Disney+ verfügbar. Die vierte und letzte Staffel wird bei uns ab 18. Januar 2023 zur Verfügung stehen.
10. «Euphoria», Season 2
Teenager und der heikle Umgang mit Social Media, Sex und bewusstseinserweiternden Substanzen. Auf Papier klingt «Euphoria» nach «Gossip Girl»... ist von der puren Kreativität des Filmemachens und dank seinem absolut einzigartigen visuellen Stils allen anderen Serien dieser Art jedoch um ein Weites überlegen. Das gelang in der zweiten Staffel sogar noch besser als beim ersten Mal.
Beide Staffeln sind via Sky Show verfügbar. Eine dritte Staffel ist in Produktion für 2023.
9. «Industry», Season 2
Sex und Drogen spielen auch in der Welt von «Industry» eine zentrale Rolle. Hier sind es allerdings nicht Teenager, die den Hedonismus leben, sondern mehrheitlich junge, britische Investmentbankerinnen und -banker, die zwischen Kokainlinien auch noch millionenschwere Börsengeschäfte abwickeln. Pfeilschnelle Dialoge, viel nackte Haut und der diskussionslos beste Serien-Soundtrack machen diese Serie weiterhin zu einem Must-See.
Beide Staffeln sind via Sky Show verfügbar. Eine dritte Staffel ist in Produktion für 2023.
8. «Pachinko», Season 1
Ein ganzes Jahrhundert koreanische Geschichte, erzählt über mehrere Generationen, zusammengefasst in acht Folgen: «Pachinko» ist die Geschichte einer koreanischen Familie von der japanischen Okkupation Anfang des 20. Jahrhunderts bis zum Aufbruch in ein neues Jahrtausend – und es bleibt dabei garantiert kein Taschentuch trocken.
Nebst den vielen nackten Emotionen glänzt diese achtteilige Serie auch mit seiner einzigartigen Sprachenvielfalt: der Dialog der Serie ist in japanisch, koreanisch und englisch gehalten, die Untertitel sind in verschiedenen Farben eingefärbt.
Die komplette erste Staffel ist via Apple TV+ verfügbar. Eine zweite Staffel ist in Produktion für 2023.
7. «Better Call Saul», Season 6
Fünf Staffeln «Breaking Bad» haben offensichtlich nicht gereicht, um allen Zuschauenden vollständig klar zu machen, warum man auf gar keinen Fall mit dem finsteren Drogenbaron Walter White sympathisieren sollte. Wohl genau darum wollte das Team hinter «Better Call Saul» in der allerletzten Runde dieser brillanten Nachfolgeserie doppelt und dreifach Unterstreichen, warum Anwalt Saul Goodman und seine unmoralischen Praktiken eigentlich genau so schlimm sind wie Walter White.
«Better Call Saul» hat das Unmögliche möglich gemacht: aus dem Schatten von «Breaking Bad» wurde hier eine Geschichte erzählt, die mit einer der besten Serien aller Zeiten mehr als «nur» mithalten kann – und zwar bis ganz zum Schluss.
Alle sechs Staffeln sind auf Netflix verfügbar. Die Serie ist abgeschlossen.
6. «Andor», Season 1
Das schönste Geschenk, welches man der zuletzt arg gebeutelten «Star Wars»-Community machen konnte: eine «Star Wars»-Serie, die nicht nur zeigt, dass dieses Universum mehr als einfach nur «Skywalker», «Vader» und Lichtschwerter ist, sondern auch mit einer Komplexität überzeugen konnte, die weit über gewöhnliche «Star Wars»-Welten hinaus führte.
Wie logistisch kompliziert ist es, eine Rebellion anzuzetteln? «Andor» liefert die Antwort – und zeigt, dass es auch innerhalb von milliardenschweren, etablierten Fliessband-Unterhaltungsmarken noch immer Platz für Tiefgang hat.
Die komplette erste Staffel ist via Disney+ verfügbar. Eine zweite und letzte Staffel ist in Produktion für 2023.
5. «Barry», Season 3
Ein Profikiller besucht einen Kurs für angehende Schauspielerinnen und Schauspieler. Das zumindest war die Ausgangslage dieser kurligen Serie. Drei Staffeln später ist «Barry»... hmmm.... eine Hollywood-Parodie? Eine Ansammlung waghalsiger Action-Szenen und wilder Verfolgungsjagden? Ein messerscharfes Porträt eines Next-Level-Soziopathen? Oder alles zusammen und noch viel mehr?
Auch im dritten Durchgang bleibt «Barry» ein unberechenbarer Blumenstrauss voller Einfallsreichtum – mit einem Humor, der bisweilen so dunkel ist, dass man dafür eigentlich einen neuen, dunkleren Schwarzton erfinden müsste.
Drei Staffeln sind via Sky Show verfügbar. Eine vierte und letzte Staffel ist in Produktion für 2023.
4. «Severance», Season 1
Niemand geht gerne Arbeiten. Genau darum haben die klugen Köpfe der «Lumon Industries» das perfekte Rezept erfunden: Bei allen Angestellten wird durch einen experimentellen, chirurgischen Eingriff das Gehirn zweigeteilt. Dank einer «Arbeitshälfte» und einer «privaten Hälfte» können sich Lumon-Mitarbeitenden ausserhalb der Bürozeiten ab sofort an nichts mehr erinnern was innerhalb ihrer Arbeitszeiten vor sich geht. Und – so viel sei an dieser Stelle verraten – in den Lumon-Gebäuden geht so einiges vor sich mit dem weder Suva noch Unia einverstanden wären.
«Severance» ist nicht nur ein nervenaufreibender und extrem spannender Sci-Fi-Thriller, der an die besten Momente von «LOST» erinnert, sondern auch die wohl stylishste Serie des Jahres. Das visuelle Konzept, das von Ben Stiller (Ja, der Ben Stiller!) und seinem Team entworfen wurde, sorgte für mehrere der markantesten Bilder des ganzen Serienjahres.
Die komplette Staffel ist via Apple TV+ verfügbar. Eine zweite Staffel ist in Produktion für 2023.
3. «The Bear», Season 1
«Carmy», ein gescheiterter Spitzenkoch mit dem Herz am richtigen Fleck, übernimmt die Sandwichbude seines Bruders. Das Sandwich, das in dieser Chicagoer Küche entsteht, geniesst zwar einen hervorragenden Ruf, leider steht es um die Finanzen dieses Lokals aber so schlecht, dass jedes zu wenig verkaufte Dessert den endgültigen Bankrott dieses Familienunternehmens bedeuten könnte.
Die Restaurantküche als Dampfkochtopf, der jederzeit zu explodieren droht: das ist zwar nicht der originellste Schauplatz für eine Serie (« Boiling Point » und hundert andere Beispiele aus der Reality-Welt, in denen unsympathische Chefköche ihren Küchengehilfinnen den Herd heiss machen, lassen grüssen), da man hier aber als Zuseherin und Zuseher sofort beginnt, sich ausschliesslich in Küchen-Jargon zu unterhalten («Hands!», «Yes, Chef!», «Behind!»), scheint «The Bear» offensichtlich nach dem richtigen Rezept zu kochen. Diesem Küchenstress haben wir uns noch so gerne ausgesetzt!
Die komplette Staffel ist via Disney+ verfügbar. Eine zweite Staffel ist in Produktion für 2023.
2. «We Own This City»
Im Polizeidepartement und Verwaltungsapparat der US-Stadt Baltimore stinkt es. Und zwar seit Jahren. Wer oder was diesen üblen Geruch verursacht, dem möchte diese sechsteilige Miniserie auf den Grund gehen. Das Ergebnis: eine Geschichte von weitreichender Korruption, Polizeigewalt und Misswirtschaft, die sich zwischen den Jahren 2003 und 2017 im richtigen Leben genau so zugetragen hat.
Aber weil David Simon und George Pelecanos, zwei Autoren die auch schon hinter der Serie «The Wire» standen, im Mittelpunkt ihrer Serie einen Hurrikan namens Wayne Jenkins (fantastisch gespielt von Jon Bernthal!) platzieren, der zu einer langen Gefängnisstrafe verurteilte Rädelsführer einer korrupten Polizeieinheit... und zugleich eine der faszinierendsten und – leider auch – charismatischsten Figuren der Seriengeschichte, kommt es einem hier zu keinem Moment so vor, als ob man gerade Hausaufgaben erledigen würde.
Die komplette Miniserie ist via Sky Show verfügbar.
1. «This Is Going to Hurt»
Der Nationale Gesundheitsdienst «NHS» ist der Nationalstolz Grossbritanniens. Dass die NHS im Hintergrund seit längerem mit nicht wirklich reissfestem Klebeband zusammengehalten wird, ist zwar nichts Neues, wird einem aber erst so wirklich bewusst, wenn man einen Blick hinter die «Nur fürs Personal»-Türe wirft.
Comedian Adam Kay war einst Gynäkologe auf der Geburtenabteilung eines Londoner Spitals. Stress, Chaos und die chronische Unterfinanzierung seiner Abteilung führten bei ihm jedoch dazu, dem Gesundheitswesen den Rücken zu kehren. Seine Erinnerungen aus dieser Zeit werden nun in dieser siebenteiligen Miniserie schonungslos aufgearbeitet. Kay wird dabei von Ben Whishaw (Q aus den «Bond»-Filmen, «Das Parfum», «Fargo») gespielt.
«This Is Going to Hurt» zeigt den nüchternen und frustrierenden Spitalalltag, platziert dabei den einen oder anderen geschickten Tiefschlag in die Magengrube, lässt dabei aber nie ausser acht, dass sich hier Menschen für die Gesundheit anderer Menschen Tag für Tag und Nacht für Nacht abrackern... und dafür dann ab und zu ein wenig müden Applaus vom Balkon aus erhalten. Die menschlichste, emotionalste und beste Serie des Jahres.
Die komplette Miniserie ist via Canal+ verfügbar.
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