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Rehmann «Ich nehme seit 20 Jahren Beruhigungsmittel»

Normalerweise kommen die Talkgäste von Robin Rehmann nach Zürich ins Radiostudio. Dieses Mal ist es anders herum: Robin besucht Livio (39) bei ihm zuhause. Dort erzählt Livio von seinen Angstzuständen und erklärt, warum es für ihn schwierig ist, einen Job zu finden und wie ihn die Liebe stärkt.

Die Kindheit ist für Livio keine einfache. Früh sieht er sich schon mit dem Thema Mobbing konfrontiert, oft mündet es in Gewaltausbrüchen: «Ich hatte viele Schlägereien in meiner Schulzeit.» Doch das Mobbing kommt nicht von irgendwo: Der Bündner hat eine Inkontinenz und nässt sich während der Schulzeit ein. Somit wird er zum einfachen Ziel seiner Mitschüler, die Lehrer sehen sich der Situation nicht gewachsen. «Pinkel-Burger haben sie mich genannt. Das war noch einer der gemässigteren Ausdrücke, die mir damals an den Kopf geworfen wurden.»

Ich wurde auch schon als «Junkie» bezeichnet.

Diese Inkontinenz begleitet Livio heute kaum mehr, wenn, dann kommt sie nur nachts vor – Brechreiz kann aber durchaus vorkommen und die Reaktionen darauf in der Öffentlichkeit sind auch schon harsch ausgefallen. Es ist auch schon vorgekommen, dass ihn jemand als «Junkie» bezeichnet. «Wenn ich mit Brechreiz durch die Stadt laufe, werden mir verschiedenste Begriffe an den Kopf geworfen. Das kränkt mich.»

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Vermehrte Angstzustände

Als wären Inkontinenz und Mobbing nicht schon genug, werden bei Livio Angstzustände immer häufiger. Die ganze Schulzeit über ist er der Aussenseiter und findet kaum Anschluss bei seinen Mitschülern. Da trifft es ihn auch umso mehr, als er im letzten Schuljahr der einzige von 27 Schülern ist, der noch keine Lehrstelle hat. Er entscheidet sich, ein zehntes Jahr anzuhängen und ist kurz vor dem Aufgeben, bis sich sein Klassenlehrer für ihn einsetzt und ihm zu einer Lehrstelle im Detailhandel verhilft. «Eigentlich eine spezielle Entscheidung, wenn man meine Angstzustände bedenkt», meint Livio rückblickend.

Neid ist ein grosses Thema. Denn niemand sieht gerne, wie ein anderer scheinbar bevorzugt wird.

Eine grosse Hilfe für das erfolgreiche Bestehen seiner Lehre ist dabei sein Vorgesetzter. Er erlaubt es Livio, den Samstag zu seinem fixen freien Tag zu machen, denn im vollen Laden kommen seine Angstzustände am stärksten zum Vorschein. «Da wollte ich mich einfach nur verstecken und möglichst weit weg sein.» Dies sorgt für Unmut bei seinen Mitarbeitern, die selber gerne mal samstags frei hätten. Sie nehmen auch die psychischen Belastungen von Livio nicht für voll. «Neid ist ein grosses Thema. Denn niemand sieht gerne, wie ein anderer scheinbar bevorzugt wird.» Als er mit der Ausbildung fertig ist, muss er auch samstags arbeiten. Diese Überforderung zwingt Livio dazu, seinen Job aufzugeben.

Die Flucht in Suchtmittel

Ich persönlich nehme Temesta seit 20 Jahren ein.

Auf seinem steinigen Weg kommt der 39-Jährige auch immer wieder mit Suchtmitteln und verschreibungspflichtigen Medikamenten in Kontakt. Ein starkes Beruhigungsmittel, wird ihm von einem Arzt verschrieben. Mittlerweile nimmt es Livio seit 20 Jahren ein.

Auch Marihuana und Alkohol werden zum Thema. Er sieht im Gras eine Beruhigung, lässt es dann nach einem einschneidenden Erlebnis aber bleiben. Anders verhält es sich mit dem Alkohol. Was zu Beginn nur Bier ist, wird schnell einmal zu Vodka und härterem Alkohol. «Irgendwann wurde es so schlimm, dass ich den ganzen Tag nur das kühle Bier am Abend vor Augen hatte oder mir nach Feierabend sofort eines kaufen musste.»

Stabilität in der Liebe gefunden

Dass Livio heute etwas mehr Stabilität in seinem Leben gefunden hat, hängt fest mit seiner Freundin zusammen. Er lernt sie mit Hilfe einer Dating-App kennen und kommuniziert seine Krankheit von Beginn weg offen. «Sie hat sicher mehr Verständnis aufgebracht als andere, da sie im sozialen Bereich tätig ist.» Die Beziehung mit ihr gibt ihm Halt, ist zeitweise aber auch ein Kampf mit seinen unkontrollierbaren Gefühlen.

Neben Angstzuständen wurde Livio nämlich auch das Borderline-Syndrom, eine Persönlichkeitsstörung diagnostiziert. «Ich habe die Tendenz, dass mich etwas schneller triggert und ich dann wütend werden kann. Das ist dann nicht immer einfach in den Griff zu bekommen.»

Ich will einfach nur gesund sein!

Gesund sein – der grösste Wunsch

Dieses Gespräch für Livio ein grosser Schritt. «Ich hatte Angst davor und musste ein Beruhigungsmittel einnehmen, dass ich diese Angst aushalten kann.» Doch was ein grosser Schritt für ihn ist, kann auch hilfreich für Menschen werden, die unter ähnlichen Zuständen leiden. «Menschen mit psychischen Krankheiten müssen immer dranbleiben, man darf niemals aufgeben.» Und für seine Zukunft formuliert Livio noch einen Wunsch, der, wie er selbst sagt, sehr utopisch klingen mag: «Ich will einfach nur gesund sein!»

S.O.S. – Sick of Silence

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Wie sieht das Leben junger Menschen aus, nachdem es durch eine chronische Krankheit ausgebremst wurde? Robin Rehmann leidet selbst an einer chronischen Krankheit und unterhält sich in seiner Sendung mit Betroffenen.

Jeden Dienstag, 18-19 Uhr bei SRF Virus oder hier als Podcast.

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