Jessica Lendenmann wächst behütet im Kanton Schaffhausen auf. Später absolviert sie eine Hauswirtschaftslehre und bleibt in ihrem Berufsfeld tätig. In Jessicas Leben gibt es eigentlich gerade keinen Grund zum Klagen. Sie ist mit der Arbeitssituation zufrieden, führt eine Beziehung und steht mitten im Leben. Dies ändert sich jedoch schlagartig, als die damals 24-jährige Jessica eines Morgens aufwacht und einen ziehenden Schmerz zwischen den Schulterblättern verspürt.«Es fühlte sich an, als hätte ich mir etwas eingeklemmt». Mit der Annahme, dass sie einfach schlecht geschlafen hat, versucht sie den Schmerz auszuharren und zu warten, bis er vorübergeht. Doch der Schmerz bleibt und die Beschwerden nehmen zu.
Der Schmerz beginnt in den gesamten Rücken bis in den Kopf zu strahlen. «Es fühlte sich an, als wäre die ganze Muskulatur steif und ich bekam auch richtig üble Migräne bis zum Erbrechen.» Als ihre Versuche mit Schmerzpflastern und Medikation Linderung zu erzielen scheitern, wendet sie sich an ihren Hausarzt. Der verabreicht ihr eine Schmerzspritze und schickt Jessica zur Chiropraktikerin. Der Beginn einer langen Odyssee durch Arztpraxen.
Die Ungewissheit wird zur Zerreissprobe
Da Jessicas Beruf als Hauswartin mit viel körperlicher Arbeit verbunden ist und zum Zeitpunkt, als ihre Schmerzsymptome anfangen, auch noch Winter mit starkem Schneefall herrscht, beisst sie sich auf der Arbeit mit immer stärker werdenden Beschwerden durch. «Mein Freund half mir glücklicherweise beim Schnee schaufeln, sonst hätte ich das nicht mehr hingekriegt.»
Die Schmerzen werden irgendwann so stark, dass es Jessica nicht mehr zur Arbeit schafft. Als weder die Ärzte, noch die neu verschriebenen Schmerzmittel vom Hausarzt helfen, weist sich Jessica ins Kantonsspital ein. Dort wird sie einmal quer durch alle Abteilungen geschickt. Sie wird mit starken Opiaten behandelt, um ihre Schmerzen zu lindern. Doch keiner der Untersuchungen gibt einen Aufschluss über Jessicas Beschwerden. So entlässt sie sich nach ein paar Tagen selber wieder aus dem Krankenhaus, da man ihr nicht weiterhelfen kann.
«Ich konnte nur noch auf dem Sofa liegen und brauchte sogar eine Stütze, um auf die Toilette zu kommen.» Sie wird krankgeschrieben und verliert nach langer Absenz ihren Job. Jessica fühlt sich aussichtslos und fällt in eine schwere Depression.
Die Diagnose
Auf den Rat ihres Vaters meldet sich Jessica in der Schulthess-Klinik in Zürich an. Diese ist eine der renommiertesten Orthopädie-Kliniken Europas. Dort kann ihr ein Rheumaspezialist endlich eine Antwort auf ihr Leiden geben. Diagnose: Fibromyalgie. «Die Diagnose brachte mir teilweise eine Erleichterung, weil endlich diese Ungewissheit weg war. Aber wenn du weisst, dass es chronisch ist und du noch so jung bist, dann schiessen einem Ängste in den Kopf, wie es weitergehen soll.»
Ich bin erst 27 Jahre alt, aber ständig müde. Ich komme mir vor wie eine alte Frau.
Das sogenannte Fibromyalgie-Syndrom wird in der Medizin auch als Weichteil-Rheuma bezeichnet. Menschen, welche an Fibromyalgie leiden, berichten über chronische und nicht exakt deutende Muskelschmerzen. Ausserdem laufen damit Erschöpfung, Schlafstörungen und Depressionen einher. Die Schwierigkeit dieser Erkrankung liegt darin, dass sie sich in klinischen Tests nicht nachweisen lässt. So kann es mehrere Jahren dauern, bis Betroffene eine Diagnose erhalten.
Bürokratenwahnsinn und Therapie
Nach dem erschöpfenden Ärztemarathon beginnt auch noch ein nerventreibender Ämterlauf. Die IV willigt trotz Gutachten von Hausarzt und Schulthessklinik nicht ein zu zahlen. «Wären meine Eltern nicht gewesen, die mir jeden Monat Geld gegeben hätten, würde ich jetzt jeden Monat zum Betreibungsamt laufen.» Als sie sich bei der Schuldenberatung des Roten Kreuzes meldet, wird sie abgewimmelt.
Sie haben mir geraten ich solle mich von meinem Freund trennen, um Sozialhilfe zu bekommen.
«Anstatt mir einen Termin anzubieten und mir zu helfen, klemmten sie mich nach zehn Minuten ab. Sie meinten alle meine Probleme am Telefon lösen zu können.»
Durch die ständigen Schmerzen und das ewige Hin und Her litt Jessicas schon stark angeschlagene Psyche noch mehr. Als die IV trotz Vermittlung mit einer Anwältin stur bleibt und der Fall zum Kantonsgericht kommt, verliert Jessica jeglichen Nerv und Hoffnung.
Ich wollte in der Nacht von der Autobahnbrücke springen.
Schlimme Suizidgedanken plagen die junge Frau. Dank ihres Umfeldes schafft sie es ihren dunklen Gedanken zu entkommen.«Ich habe mir selbst auch immer versucht zu sagen: Versuche es noch einen Tag. Ich versuchte meinen Fokus auf Dinge zu legen, die mich glücklich machen.»
Dank eines dreiwöchigen Reha-Aufenthaltes, welchen Jessica in Davos machen konnte, lernt sie einen besseren Umgang mit ihrer Krankheit. Dort fühlt sie sich zum ersten Mal verstanden.
Auch wenn sie in vielen Dingen körperlich eingeschränkt ist, versucht sie sich nicht mit anderen Menschen zu vergleichen. Denn sie weiss:
Jeder Mensch hat sein Päckchen zu tragen. Wir sehen nicht in den Menschen hinein.