Jeder kennt es: An etwas nicht denken zu dürfen ist nicht nur enorm schwierig, sondern beinahe unmöglich. Ein bekanntes Beispiel: «Denke jetzt nicht an einen rosafarbenen Elefanten!» Na, woran hast du jetzt gedacht? Das Positive: An der oben genannten Aufgabe zu scheitern, ist völlig normal. Aus einem Gedanken nicht mehr herauszukommen, kann eine psychische Erkrankung darstellen und genau an einer solchen litt Elvis: an Zwangsgedanken.
Zwangsgedanken sind eine Form von Zwangsstörungen (engl.: OCD; obsessive-compulsive disorder) und zeigen sich dadurch, dass Betroffene aus einem Gedanken nicht mehr rauskommen, Ängste und Zweifel entwickeln und Rituale daraus bilden, um daraus zu entkommen.
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Elvis erinnert sich noch genau daran, wie alles begann. «Im Februar 2012 war ich im Zug auf dem Weg zur Uni, da sah ich einen gutaussehenden Mann mit einer braunen Jacke, die mir gefiel.» Wie ein Blitz schoss es ihm durch den Kopf: «Wenn du das denkst, bist du homosexuell.» Er bricht in Schweiss aus, sein Herz beginnt zu rasen. Schon da verspürt Elvis eine grosse Angst. Was er zu diesem Zeitpunkt aber noch nicht ahnt: Dieser eine Gedanke – «Bin ich schwul?» – wird fortan sein ständiger Begleiter.
Ging es um Homophobie? Überhaupt nicht. «Es ging um die Angst, die eigene Identität zu verlieren», so Elvis. Es waren die endlosen Zweifel an sich selbst und daran, ob er nun wirklich die Person ist, die er glaubte, zu sein. «Diese Gedanken waren 24 Stunden am Tag da und ich konnte sie nicht mehr ablegen», erzählt er. Eine logische Erklärung für Zwangsgedanken gibt es meistens nicht, was es für Aussenstehende umso schwieriger macht, diese nachzuvollziehen.
Gedanken und Rituale bestimmen seinen Alltag
Um sich selbst die Bestätigung zu geben, dass er nicht homosexuell ist, verfängt Elvis sich in zwanghaften Ritualen. «Ich konnte beispielsweise nicht mehr mit überkreuzten Beinen sitzen, da es für mich ein Zeichen war, dass ich schwul sein könnte. Auch das geblümte Hemd, das ich heute trage, hätte ich vor ein paar Jahren niemals anziehen können.» Elvis beginnt, sich mit dem ritualen Konsum vielfältiger Pornografie selbst zu testen. «Ich wollte wissen, welche Art von Pornographie mich antörnt», erklärt er.
Es war immer das Gleiche: Gedanken, Angst, Rituale und wieder Gedanken.
Gleichzeitig merkt er, wie stark die Gedanken sein Leben bestimmen. Er recherchiert im Internet und glaubt, sich in der Diagnose der Zwangsgedanken wiederzufinden. Daraufhin holt er sich psychologische Hilfe. In der Therapie wird ihm jedoch widersprochen. «Man sagte mir, ich leide nicht an Zwangsgedanken, sondern sei auf der Suche nach einer maskulinen Identität», blickt er zurück. Sein Zustand verschlechtert sich, Suizidgedanken machen sich breit. Elvis isoliert sich, versucht verzweifelt, mit immer mehr Ritualen sicherzustellen, dass er nicht homosexuell ist.
Ein Coming-out als letzte Hoffnung
Je mehr er sich in seinen Ritualen verfängt, desto schlimmer werden seine Zweifel. «Ich wusste nicht mehr, ob meine Erinnerungen an vergangenen, heterosexuellen Interessen und Erfahrungen wahr oder falsch sind.» Elvis ist so verzweifelt, dass er als letzten Ausweg ein Coming-out sieht. «Ich hatte die Hoffnung, dass durch ein Coming-out die Zwangsgedanken, die Ängste und die Zweifel aufhören würden», meint er.
Sein Umfeld ist zwar überrascht, aber nimmt es gut auf. Jedoch verschwinden die Zwangsgedanken nicht. «Dann zweifelte ich, ob mein Coming-out nicht authentisch genug war und ich vielleicht Erfahrungen mit einem Mann machen müsse», erzählt der mittlerweile 30-Jährige und fügt an: «Aber das wollte ich eigentlich gar nicht.»
Lernen, mit der Angst umzugehen
In einem Austauschjahr in den USA fasst Elvis erneut den Mut, eine Therapie zu beginnen. «In dieser Therapie ging es vor allem darum, meinen Selbstwert wiederaufzubauen. Gleichzeitig startete ich in meiner Freizeit eine eigene kognitive Verhaltenstherapie.» Schritt für Schritt findet Elvis einen Weg, mit seinen Zwangsgedanken umzugehen. «Gedanken lassen sich nicht steuern. Man muss lernen, seine Angst zu umarmen, sie willkommen zu heissen und nicht davon zu laufen.»
Etwas nicht denken ist schon denken.
Auch seine zwanghaften Rituale kann Elvis ablegen. In einer Zwangsstörung sind die Rituale nicht die Lösung, sondern das Problem. «In der Therapie lernt man, Ängste auszuhalten und Zweifel zu akzeptieren und nicht mit irgendwelchen Ritualen dagegen anzukämpfen», zeigt er auf.
Ein Thema, das Aufklärungsarbeit braucht
Heute hat er sich mehrheitlich von seinen Zwangsgedanken befreit. In stressigen Phasen oder vor wichtigen Entscheidungen können sie wieder auftauchen, doch Elvis hat einen Weg gefunden, damit umzugehen.
Zwangsstörungen entwickeln sich meistens kurz vor oder nach der Pubertät. Nach wie vor brauche das Thema viel Aufklärungsarbeit, sagt Elvis. Die Frequenz eines Zwangsgedanken, die Angst, die endlosen Zweifel, und die Rituale sind Faktoren, welche eine Zwangsstörung qualifizieren. Der reine Inhalt eines Gedankens ist nicht relevant. Denn jeder hatte schon einmal einen ungewollten Gedanken. Davon ist Elvis überzeugt.