Zum Inhalt springen

Header

Audio
«Den sexuellen Übergriff habe ich jahrelang verdrängt»
Aus Rehmann vom 21.12.2020. Bild: ZVG / SRF
abspielen. Laufzeit 50 Minuten 17 Sekunden.
Inhalt

Rehmann «Den sexuellen Übergriff habe ich jahrelang verdrängt»

Valerie (23) hat eine grosse Sportkarriere vor sich. Doch sie erleidet mehrfach sexuelle Misshandlung und rutscht in eine Essstörung, was sie jahrelang verheimlicht – bis sie zusammenbricht.

Schon als Kind ist Valerie sehr ehrgeizig und mag Herausforderungen. Sie schreibt gute Noten in der Schule und ist gut im Sport. Je älter sie wird, desto mehr bewegt sich in Richtung Leistungssport: «Da habe ich Anerkennung bekommen. Ich hatte das Gefühl, dass ich durch Leistung meine Anerkennung verdienen muss», erzählt die heute 23-Jährige.

Der sexuelle Übergriff

Ihre grosse Leidenschaft ist der Orientierungslauf (OL), bei dem sie rasch vom Regional- ins Elite-Nationalkader einsteigt und an der Junioren-Weltmeisterschaft 2016 teilnehmen darf. Doch bevor es zum langersehnten Event kommt, geschieht das Unfassbare: Durch einen Bekannten kommt es zu einem sexuellen Übergriff, den Valerie im Nachhinein völlig verdrängt: «Ich bin in einem Schockzustand nach Hause gegangen, ins Bett, am nächsten Tag aufgestanden und ins Training als wäre nichts passiert.»

Für ihre körperlichen Verletzungen, die sie durch den Übergriff erlitten hat, erfindet sie Ausreden. Sie konzentriert sich voll und ganz auf das Training und die bevorstehende WM. Immer, wenn bei Valerie Bilder vom Überfall auftauchen, geht sie trainieren. An der WM kann sie trotz des Erlebnisses ihre Bestleistung zeigen und holt überraschend die Silbermedaille. Doch so richtig freuen kann sich die Vize-Weltmeisterin nicht. «Ich spürte nicht die Freude, die hätte da sein müssen. Dass es mit dem Übergriff in Zusammenhang stand, habe ich damals nicht kapiert.»

Ich habe mich gefragt: Wo sind meine Gefühle? Wo ist meine Freude?

In der Zwischenzeit ist die junge Frau auch in eine Essstörung gerutscht: «Dort hatte ich die Kontrolle, die ich sonst gerade etwas verloren hatte.» Diese bleibt aber nicht lange unbemerkt: Das Nationalkader gibt ihr die Auflage, ein gewisses Gewicht zuzulegen, wenn sie dabeibleiben will.

Möglichst wenig Kalorien, möglichst viel Sport, möglichst wenig Gewicht.

Ein guter Kollege von ihr spricht sie auf die Essstörung an. «Ich war fast erleichtert, endlich mit jemandem darüber zu reden.» Den sexuellen Übergriff verschweigt sie ihm jedoch. Als Ursache für die Essstörung nennt sie den Sport und den damit verbundenen Leistungsdruck – dasselbe erzählt Valerie auch der Ärztin, bei der sie kurz darauf in Behandlung kommt. Doch der psychische Druck wird für sie immer stärker. Als sie einen Knorpelschaden im Knie erleidet, ist sie fast erleichtert: «Ich war positiv eingestellt und froh, dass ich für den Moment keine Leistung erbringen muss».

Von der Vergangenheit eingeholt

Valerie muss für zwölf Monate in die Reha, wo sie schon bald von der Vergangenheit eingeholt wird: «Ich konnte plötzlich nicht mehr davonrennen, wenn ich von meinen Gedanken konfrontiert wurde.» Sie hat Schlafstörungen und immer wieder Flashbacks von dem sexuellen Übergriff: «Mir ging es schlecht. Ich hatte keine Lust, keine Motivation, keine Freude.» Ihre Trainerin merkt, dass irgendetwas nicht mehr stimmt und spricht sie darauf an. Sie ist es, der Valerie von dem Übergriff als erste Person erzählt. Valerie bricht zusammen.

S.O.S. – Sick of Silence

Box aufklappen Box zuklappen

Wie sieht das Leben junger Menschen aus, nachdem es durch eine chronische Krankheit ausgebremst wurde? Robin Rehmann leidet selbst an einer chronischen Krankheit und unterhält sich in seiner Sendung mit Betroffenen.

Jeden Dienstag, 18-19 Uhr bei SRF Virus oder hier als Podcast.

Ihre Trainerin hilft ihr, psychiatrische Hilfe zu finden und steht ihr auch heute noch zur Seite. Nach mehreren Versuchen und einer Unterbrechung wegen des Coronavirus, entscheidet sich Valerie für mehrere Klinikaufenthalte. Dort macht sie verschiedene Therapien; lernt, mit ihren Gefühlen umzugehen und auf ihre Bedürfnisse zu achten. Auf eine Anzeige des Täters, den sie persönlich kennt, verzichtete sie: «Ich hatte keine Beweise, da ich ja nie beim Arzt war. Ich habe damals so getan als wäre nichts, darum hätte eine Anzeige wohl auch nichts gebracht.»

Ein weiterer Überfall

Als wäre das nicht genug, kommt es während des Klinikaufenthaltes zu einer Re-Traumatisierung: Einmal pro Woche sollte sie daheim schlafen, damit sie einen Bezug zur Aussenwelt hat. An so einem Abend wird Valerie auf dem Nachhauseweg von einem Betrunkenen überfallen – es kommt wieder zu einem sexuellen Übergriff. Zwei Tage lang verdrängt sie das Ereignis, dann kann sie in der Klinik darüber reden. Sie fällt in eine Krise, resigniert und hat keine Kraft mehr. Doch in der Klinik wird ihr geholfen: «Ich hatte viele gute Gespräche und Ansprechpersonen. Die haben mir die nötige Kraft gegeben, dass ich sicher niemals aufgeben werde.»

Der Rücktritt

Nach elf Wochen in der Klinik gibt Valerie ihren Rücktritt vom Spitzensport bekannt. «Mir ging es grundsätzlich wieder besser, aber die Therapie war sehr intensiv mit all den Flashbacks. Ich hatte Angst vor allem.» Heute ist sie noch immer in Therapie, doch es geht ihr deutlich besser: «Ich kann mittlerweile dazu stehen, was ich mache und was ich will. Mit den Flashbacks kann ich immer besser umgehen, doch sie sind noch immer an der Tagesordnung.» Das sei manchmal fast nicht zum Aushalten: «Sie sind so real. Das ist jedes Mal so als würde ich es wieder erleben.» Trotz allem, das Valerie erlebt hat, meint sie: «Ich versuche immer, das Positive zu sehen und immer weiterzumachen.»

Meistgelesene Artikel