Simone lebt mit einer LRS (Lese-Rechtschreib-Schwäche) und einer Lernbehinderung. «Ich schreibe mit Fehlern. Andere Leute können meine Texte nicht lesen, ich verstehe sie problemlos. Es ist ein bisschen wie eine Geheimschrift», erklärt er.
Schon früh in seinem Leben stösst «Simi» mit seiner Lernschwäche auf Überforderung bei Lehrpersonen. «Meine Kindergartenlehrerin sagte, ich sei ‹behindert›». Darum muss der heute 17-Jährige – gegen den Willen seiner Mutter, die sich stets für ihren Sohn einsetzt – fortan die Heilpädagogische Schule in Lenzburg besuchen.
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An der «HPS» wird Simi zum ersten Mal mit Mobbing konfrontiert. «In der Freizeit riefen die anderen Kinder: ‹Dort kommt der Behinderte von der Behindertenschule!›», erinnert er sich. «Eltern aus meinem Quartier haben sogar ihren Kindern verboten, mit mir zu spielen!» Warum, kann er sich bis heute nicht erklären.
Ich habe mehrmals Abschiedsbriefe geschrieben. Ich wollte einfach nur noch gehen.
Das ständige Mobbing beginnt an Simi zu nagen. Er fällt in ein tiefes Loch – bis er nur noch einen Ausweg sieht: Suizid. «Ich habe mehrmals Abschiedsbriefe geschrieben. Ich wollte einfach nur noch gehen.»
Glücklicherweise gehen seine Suizidversuche jeweils schief – zum Teil aber nur haarscharf. Simi erinnert sich an einen folgenschweren Abend, an welchem er sich mit einem T-Shirt zu erwürgen versucht: «Wenn ich viel arbeiten muss, gerate ich schnell in eine Burnout-Situation. An diesem Tag musste ich den ganzen Tag Stromschienen einpacken und war ziemlich überfordert», so der Aargauer.
Als er schliesslich nach Hause kommt, sagen ihm seine inneren Stimmen, dass er seinem Leben jetzt besser ein Ende setzt: «Die Stimmen wurden immer wie lauter und sagten mir, dass ich noch fester zudrücken muss», erzählt Simi. Gottseidank ist sein Vater zur Stelle und kann Schlimmeres verhindern.
Abwärtsspirale nach dem Tod der Mutter
Regelmässig sucht sich Simi Hilfe und macht mehrere Klinikaufenthalte. Trotzdem wird er durch Rückschläge regelmässig wieder aus der Bahn geworfen. Besonders schlimm trifft es ihn, als seine Mutter stirbt.
«Meine Mutter war die Stärke meines Lebens, die mich immer wieder aufgebaut hat», so Simi. «Sie hat mir oft klar gemacht, dass das Leben wie eine Achterbahn ist. Es geht manchmal runter, aber auch wieder rauf.»
Mit dem Tod der Mutter verliert Simi seinen Anker: «Wenn ich mit ihr geredet habe, fühlte sich das an, wie einen Schluck von einem Power-Getränk zu trinken.» Ohne seine Mutter werden auch die inneren Stimmen, die in ihm Zweifel und den Drang zur Selbstverletzung fördern, wieder stärker. Es folgen weitere Klinikaufenthalte.
Die Stimmen beginnen erst zu verstummen als Simi anfängt, regelmässig Medikamente zu nehmen. Und ein weiteres, für Simi überraschendes Hilfsmittel findet er ebenfalls: die Musiktherapie.
Ich hätte nicht gedacht, dass ich heute noch da bin.
«Ich habe in meinem Leben schon mit allen gesprochen: Therapeut:innen, mit der psychiatrischen Spitex, Psycholog:innen, Psychiatr:innen, Ärzt:innen… aber meine grösste Stütze war die Musiktherapeutin», so der 17-Jährige. Mit dem Klavierspielen habe er etwas gefunden, in dem er voll und ganz aufgehen kann.
Blickt Simi auf seine turbulenten Jahre zurück, sagt er: «Ich hätte nicht gedacht, dass ich heute noch da bin», und fügt zugleich an: «Man sollte jeden Menschen so akzeptieren wie er ist, Einschränkung hin und her. Ein Mensch ist ein Mensch.»
Genau darum setzt sich Simi mittlerweile auch aktiv dafür ein, dass Schulen eventuelle Mobbingprobleme sichtbarer machen sollen. Ausserdem möchte Simi jeder Person Mut zusprechen, die alleine nicht mehr weiterweiss: «Keiner muss sich schämen, Hilfe zu holen. Erst recht, wenn man in der Schule gemobbt wird. Schliesslich hat jeder einen Rucksack – nur sind beim einen halt mehr Steine drin wie beim anderen.»