Zum Inhalt springen

Header

Audio
«Ich bin für vier Jahre verstummt»
Aus Rehmann vom 06.09.2021.
abspielen. Laufzeit 48 Minuten 51 Sekunden.
Inhalt

Rehmann «Ich bin für vier Jahre verstummt»

Seit Christian 17 Jahre alt ist, hört er Stimmen. Stimmen, die ihn bereichern, aber auch in tiefste Abgründe stürzten. Bei Robin Rehmann erzählt er von einer bewegten Vergangenheit und hoffnungsvollen Zukunft.

«Stimmen zu hören kann am Anfang ganz schön verwirren», sagt Christian. Das erste Mal begegnen sie ihm an einem Freitagabend nach der Arbeit. Christian steht im Badezimmer, um später mit Freunden auszugehen. Da taucht die Stimme eines Arbeitskollegen auf: «Ich weiss, dass es dir nicht gut geht und will dir helfen», sagt sie. Kurz darauf, als er sich gerade Gel in die Haare streicht, taucht die Stimme seiner Coiffeuse auf. Sie hilft ihm, die Frisur zu richten. Anschliessend eine dritte Stimme, die ihm seine Kleidung aufs Bett legt. «Ich fühlte mich unterstützt und wollte diese Stimmen auf keinen Fall loswerden», erinnert er sich.

Freunde im Kopf

Fortan wird Christian von seinen Stimmen im Kopf begleitet. Es sind Stimmen von Personen, die er kennt, zu denen er Vertrauen hat. Sie teilen persönliche Botschaften mit ihm, helfen ihm Geschehenes zu verarbeiten und sprechen ihm zu, wenn er an sich zweifelt. Die Stimmen kommen, wenn er alleine ist. Für Christian öffnet sich ein Graben zwischen Alltag und Parallelwelt. Ein Hin und Her zwischen Rationalität und Vernunftwidrigkeit.

Das Vertrauen in meine Stimmen und die Bedeutung der Botschaften hatten nur Platz, wenn ich alleine war.

Im sozialen Alltag dominierten die rationalen, logischen Gedanken», erinnert sich der Burgdorfer. Christian behält seine Stimmen lange für sich. Erst in der Berufsschule erzählt er Kollegen davon. Dann geht alles sehr schnell. Kurz darauf landet er beim schulpsychiatrischen Dienst, dann in einer Klinik.

«Ich war nie an dem Punkt, an dem ich psychologische Hilfe gebraucht hätte», betont Christian. Er beschreibt seine Stimmenwelt als erfüllend. Um dem psychologischen Setting zu entkommen, gehorcht er und schweigt. Christian verlässt die Klinik, die Stimmen bleiben und er hält an ihnen fest. «Sie halfen mir, auch im realen Leben Anschluss zu finden», blickt er zurück. Doch so schön die verlockende Parallelwelt scheint, so tief reisst sie den heute 44-Jährigen auch nach unten. Durch den Aufruf einer seiner Stimmen, unternimmt Christian einen Suizidversuch.

Die Stimme gab mir ein Gefühl des Versagens und lockte gleichzeitig damit, durch den Suizid in die schöne Parallelwelt zu gelangen.

Nach dem Suizidversuch verbleibt Christian eine Zeit lang in einem betreuten Wohnen. Die Stimmen werden drückender, geben ihm ein Gefühl des Versagens. Die Botschaft ist eindeutig: Wenn du deine Parallelwelt behalten möchtest, musst du schweigen. Christian folgt der Botschaft und schweigt. Ganze vier Jahre lang. «Es war für mich einfacher, in diesem geschützten Raum zu bleiben, als mich meiner Verletzlichkeit zu stellen», räumt er ein.

S.O.S. – Sick of Silence

Box aufklappen Box zuklappen

Wie sieht das Leben junger Menschen aus, nachdem es durch eine chronische Krankheit ausgebremst wurde? Robin Rehmann leidet selbst an einer chronischen Krankheit und unterhält sich in seiner Sendung mit Betroffenen.

Jeden Dienstag, 18-19 Uhr bei SRF Virus oder hier als Podcast.

Schweigen für einen Platz in Sicherheit

Christian wird trotz seines Verstummens akzeptiert und unterstützt. Ihm wird die Zeit gegeben, sich seinen Ängsten zu stellen und den eigenen Schutzmechanismus vor seinen Gefühlen zu überwinden. Sein Umfeld vermittelt ihm Zuversicht. Hat das Leben nicht doch mehr zu bieten, fragt er sich immer wieder und kämpft gegen seine Ängste an. Nach vier Jahren ist sein erstes Wort ein «Danke» an seine Familie. Christian merkt: Obwohl er gesprochen hat, ist nichts passiert. Es hat sich nichts verändert und er kann weiter existieren. Am selben Abend noch, fällt ein ganzer Satz, am nächsten Tag drei Sätze. Nach wenigen Tagen spricht Christian wieder und gewinnt das Vertrauen in sein Leben zurück.

Mit der Zeit lernt der junge Mann, dass es okay ist, unkonventionelle Ausdrucksmöglichkeiten zu haben. Dass es okay ist, Stimmen zu hören, solange man die Macht darüber behält, zu urteilen, was wahr und falsch ist.

Meine Stimmen sind ein Weg, Zugang zu meinen Gefühlen zu finden, die ich sonst verweigern würde.

Heute begleitet Christian als qualifizierter Peer-Arbeiter Menschen, die Stimmen hören in ihrem Alltag. Er schenkt anderen Betroffenen Glaubwürdigkeit und hilft ihnen, ihre Stimmen zu verstehen. Christian möchte das verständnisvolle, zuversichtliche Gegenüber sein, das auch er gebraucht hat. «Ich kann die Stimmen anderer nicht übersetzen, aber ich kann helfen, sie einzuordnen und die Botschaften dahinter zu entschlüsseln», sagt er.

Meistgelesene Artikel