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«Ich kann manchmal vor lauter Angst die Wohnung nicht verlassen»
Aus Rehmann vom 01.03.2021. Bild: SRF
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Rehmann «Ich kann manchmal vor lauter Angst die Wohnung nicht verlassen»

Sandro (35) leidet an einer Angststörung. Wenn er sein gewohntes Umfeld verlässt, sind Panikattacken, Todesangst und Derealisation die Folge. Im Gespräch mit Robin Rehmann erzählt Sandro, wie er mit diesem Dauerstress umgeht und warum er die Hoffnung auf Besserung nicht aufgibt.

Schon als Kind weiss Sandro, dass etwas an ihm anders ist. Er war von klein auf bis in die Jugendzeit Bettnässer und hatte oft Angst: Vor dem Gewitter, vor fremden Orten und davon, das gewohnte Umfeld zu verlassen. Dass er Hilfe braucht, wird ihm aber erst Jahre später, im Alter von 25 Jahren, bewusst. Sandro arbeitet zu dieser Zeit als Koch. Es ist Wochenende und das Restaurant ist bombenvoll. Sandro ist wahnsinnig im Stress. Ihm wir schwindlig, er hyperventiliert, bekommt Herzklopfen. «Ich dachte, ich habe einen Herzinfarkt und würde sterben», sagt Sandro. Er fällt in Ohnmacht.

Falsche Diagnose

Am nächsten Tag wird Sandro von einem Arzt untersucht. Diagnose: eine nervöse Herzstörung. Sandro geht daraufhin alles etwas langsamer an, liegt zwei Wochen nur im Bett. Er fühlt andauernd seinen Puls, googelt ständig nach Herzkrankheiten und kann an nichts anderes mehr denken. Dass die Diagnose des Arztes nicht stimmt, kommt erst 1.5 Jahre später heraus: Sandro ist mit seiner damaligen Freundin mit dem Zug unterwegs nach Zürich an ein Konzert. Er lebt zu dieser Zeit in einer 2.5 Zimmer-Wohnung, hat schwerwiegende familiäre Probleme, keinen festen Job, Alkohol- und Drogenprobleme. Und seine Freundin engt ihn mit Eifersuchtsszenen ein. Bei dieser Zugfahrt bricht plötzlich alles über Sandro ein. «Ich hatte das Gefühl, dass ich sofort aus diesem Zug raus muss». Sandro hat Platzangst und fühlt sich, als würde er in einem Lift stecken bleiben. Das Gefühl kommt ihm bekannt vor: Schon damals in der Küche hatte er dieselben Symptome.

Daraufhin fragt Sandro eine Sozialarbeiterin nach Hilfe. Diese gibt ihm die Adresse einer Therapeutin. Recht schnell kommt heraus, dass Sandro keine Herzkrankheit hat – sondern Panikattacken. Es wird eine Angststörung namens Agoraphobie diagnostiziert. Den Ursprung sieht die Therapeutin in Sandros Vergangenheit: Er hatte zu diesem Zeitpunkt bereits über ein ganzes Dutzend Arbeitsstellen, ist 14 Mal umgezogen, hatte diverse Partnerinnen. Seine Mutter hat 2010 beinahe Suizid begangen. Sein Leben war eine Achterbahn ohne feste Anhaltspunkte. Starke Medikamente sollen Sandro wieder auf die Beine helfen. Doch in dieser depressiven Phase ist die tägliche Einnahme der Medikamente für Sandro praktisch unmöglich. Ausserdem soll er jede Woche ein Blutbild machen, doch die Angst, das Haus zu verlassen und zu einem Arzt zu gehen, hindert ihn daran.

Die nächsten immer wiederkehrenden heftigen Panikattacken hat Sandro Ende 2013. Er arbeitet in einem Arbeitsversuch als Verkaufsberater in einem Handyladen. Es ist Dezember, Handy- und Internetabos werden zu grossen Rabatten verkauft, der Laden ist durchgehend gut besucht. Wenn die Panikgefühle aufkommen, weicht er oft auf die Toilette aus. Anders als im Job als Koch kommt die schlimmste Panikattacke erst danach.

Ich habe mich endlich nicht mehr so allein gefühlt

An Weihnachten, als die stressige Zeit vorbei ist, stürzt alles zusammen. Sandro schafft es danach fast einen Monat nicht, die Wohnung zu verlassen. Es ist ein radikaler Schritt nötig: Sandro lässt sich nach langem Hin und Her freiwillig in eine psychiatrische Klinik einweisen. Dort geht es darum, den normalen Alltag aufrecht zu erhalten. Frühstück, Mittagessen, Abendessen, duschen, kleine Gespräche führen. Sandro fühlt sich anfänglich unwohl. Er hat durch den Klinikeintritt das Gefühl, endgültig versagt zu haben. Die Vorstellung, was andere von ihm denken könnten, macht ihm zu schaffen. Er will lieber der aufgestellte Sandro bleiben, der auf jede Party geht, Musik produziert, immer mit dem Skateboard unterwegs ist.

Doch Sandro wird bewusst, dass er nur mit Drogen und Alkohol so sein kann und das auf längere Zeit keine Lösung ist. Er zieht einen Schlussstrich und verlässt sein komplettes Umfeld, um nicht mehr mit Alkohol und Drogen in Kontakt zu kommen. Sandro tauscht sich mit anderen Leuten in der Klinik aus, die ähnliche Probleme haben. Und fühlt sich zum ersten Mal verstanden. «Ich habe mich endlich nicht mehr so allein gefühlt».

Der erste Schritt zur Besserung

Danach versucht es Sandro mit einer Verhaltenstherapie. Seine Therapeuten sagen ihm, er solle sich absichtlich in Situationen begeben, die ihm Angst machen. Doch statt die Angst zu überwinden, wird sie nur noch schlimmer. Später fängt Sandro mit einer Tiefentherapie an. Er verarbeitet den Ursprung seiner Panikattacken: Seine Kindheit, wie er Verhaltensmuster und Ängste übernommen hat, als Kind die Liebe seiner Mutter gesucht und selten bekommen hat, wie er es benötigt hätte.

Er realisiert, dass er sich die Liebe, die er von der Aussenwelt nicht bekommt, selbst geben muss. Mittlerweile hat Sandro seit 1.5 Jahren keinen Kontakt mehr zu seiner Mutter. Das habe sich durch die räumliche Distanz und der Tiefentherapie einfach so entwickelt. «Einerseits wäre es schön, wieder Kontakt zu haben, aber momentan tut mir der Abstand gut». Sandro will Gras über die Vergangenheit wachsen lassen.

Ich möchte mit meinen Erfahrungen anderen Menschen helfen

Auch heute hat Sandro die Angststörung nicht überwunden. Er wohnt in einem kleinen Städtchen am Bodensee, muss zum Einkaufen nicht weiter als 100 Meter gehen. In einem kleinen Studio, einen Kilometer von seinem Zuhause, arbeitet Sandro an seiner Musik. In diesem Radius fühlt er sich mehr oder weniger wohl. Sobald er weiter weggeht, kommen die Probleme zurück: Panikattacken, Todesangst, Schwitzen, Derealisation, Dauerstress.

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Im Gegensatz zu früher hat Sandro heute Hoffnung. In den nächsten fünf Jahren will er eine Ausbildung in einem sozialen Beruf starten. «Ich möchte mit meinen Erfahrungen anderen Menschen helfen». Für andere Leute, die sich in einer ähnlichen Situation befinden, rät Sandro: Sich unbedingt frühzeitig über die eigene Krankheit informieren, beispielsweise mit dem Buch «Panikattacken und Angststörungen loswerden» von Klaus Bernhard, sich mit anderen Leuten austauschen, direkt um Hilfe fragen und zwar nicht erst, wenn die Hütte bereits brennt. «Denn wenn man in der Angst drin ist, ist es schwer, wieder rauszukommen».

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