Sie geht noch in den Kindergarten, als Anjas Mutter einen Mann kennenlernt. Ihr späterer Stiefvater hat bereits zu diesem Zeitpunkt ein Alkoholproblem und die nächsten Jahre wird Anja von seiner Sucht geprägt. Sie erzählt: «Seine Alkoholsucht wurde bagatellisiert und in unserer Familie nie thematisiert.» Ihre Grosseltern hätten einen Laden in dem Dorf, in dem sie aufwuchs, geführt, und ihnen sei ein guter Ruf sehr wichtig gewesen: «Darum hat niemand darüber gesprochen, obwohl alle gemerkt haben, dass etwas nicht stimmt.»
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Damals hat Anja sogar das Gefühl, dass sie der Grund für die Probleme ihres Stiefvaters ist. «Ich war das schwarze Schaf in der Familie und war schon von klein auf eher rebellisch», erinnert sie sich. Als kleines Mädchen kann sie noch nicht benennen, was genau mit ihrem Stiefvater nicht stimmt, doch er verhält sich oft sonderbar, kann kaum mehr die Treppe hochgehen und attackiert sie verbal. «Geschlagen hat er mich nie, aber er hat mich beleidigt und beschimpft».
Verbale Attacken
Je älter sie wird, desto mehr wehrt sie sich gegen die Beschimpfungen, was noch mehr Konflikte auslöst. «Ich bin regelmässig vor ihm weggerannt, weil er mir mit körperlicher Gewalt drohte. Doch ich war immer schneller, denn er war so betrunken, dass er kaum gehen konnte.» Zudem merkt sie: Sie ist gar nicht das Problem. «Im Nachhinein muss ich sagen: Die verbalen Beleidigungen waren nicht mal das Schlimmste. Das Schlimmste war, dass ich mich nicht ernst genommen gefühlt habe. Dass ich sagen konnte, etwas stimmt nicht, aber niemand hat es hören wollen.»
Ich konnte nicht weg von meiner Mutter, weil ich sie schützen wollte.
Auch ihre Mutter will die Alkoholsucht ihres Mannes nicht wahrhaben. «Ich kann es mir nicht erklären, wie meine Mutter es so lange aushalten konnte», erzählt Anja. Er habe ihr oft versprochen, dass er sich bessern und nur noch alkoholfreies Bier trinken würde. Die Mutter hofft das Beste, doch es ändert sich nichts. «Sucht ist eine schlimme Krankheit, die man nicht einfach so abstellen kann», findet Anja. Dass ihre Mutter nichts unternimmt, empfindet sie als schlimm. Dennoch spürt sie ihr gegenüber ein schlechtes Gewissen: «Mein leiblicher Vater, der ist super, hat mir angeboten, dass ich bei ihm wohnen kann. Doch das konnte ich wegen meiner Mutter nicht, ich wollte sie schützen», erzählt die heute 44-Jährige. «Ich konnte sie nicht alleine lassen. Wenn ich weg wäre, schafft es meine Mutter nicht, es auszuhalten».
Immer einsamer und zurückgezogener
Anja zieht sich immer mehr zurück, fühlt sich einsam und alleine gelassen. «Ich hatte eine innere Wut und Aggressionen in mir, die ich nirgends rauslassen konnte». Um diese Gefühle loszuwerden, fängt sie an, sich zu ritzen. Aktiv Hilfe gesucht hat sie nie, denn sie schämt sich und will alles verstecken. Sie ist gerade mal zwölf Jahre alt, als sie selbst anfängt, Alkohol zu trinken und Cannabis zu rauchen. «Ich war ein emotional verwahrloster Teenager».
Sie wünscht sich, so schnell wie möglich von Daheim weg zu können. Doch sie merkt: «Nur weil ich aus der Situation weg bin, trage ich dennoch den ganzen Ballast mit mir rum. Ich war nicht frei, konnte keine gesunden Entscheidungen treffen und habe mich immer mittreiben lassen.» Sie hat kein Selbstvertrauen, doch viele gute Freunde, die sie positiv beeinflussen.
Hilfe im Ausland – und von Gott
Im Alter von 21 erfährt sie von einer Organisation und einer kirchlichen Schule auf den Philippinen, in der junge Menschen mit Problemen Abstand gewinnen und Gott kennenlernen können. «In dem Moment wusste ich: Das brauche ich. Ich muss weg von hier, sonst wird es nie besser.» Sie geht für ein halbes Jahr dorthin und lernt, dass sie nicht so alleine und machtlos ist, wie sie sich immer gefühlt hat. Sie betet oft und spürt Gott an ihrer Seite. «Er hat mich nie alleine gelassen, das hat mich ermutigt», erinnert sich Anja. «Dadurch habe ich bekommen, was ich mir immer gewünscht habe: Dass ich angenommen werde, dass jemand an meiner Seite ist.» Das sei ein neuer Start in ihr Leben gewesen. «Ich sage mir seither immer wieder: Du bist gut, so wie du bist.»
Mittlerweile hat es auch Anjas Stiefvater geschafft, von seiner Sucht wegzukommen. Heute sei er ein anderer Mensch: «Ich habe eine gute Beziehung zu ihm. Nicht sehr nahe, aber gut. Das hätte ich mir niemals erträumt, nach allem, was war.» Mit ihrer Geschichte möchte Anja anderen Menschen Mut machen, dass es einen Weg und Angebote gibt, bei denen man sich Hilfe holen kann, denn das sei am wichtigsten.