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«Mein Körper rettet mich – ich zerstöre ihn dafür»
Aus Rehmann vom 15.02.2021. Bild: SRF
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Rehmann «Mein Körper rettet mich – ich zerstöre ihn dafür»

Schon mit 14 Jahren entwickelt Selina (23) eine Essstörung. Sie möchte nicht zur Frau werden und setzt sich das Ziel, ihr Gewicht bis ins Erwachsensein zu behalten. Im Gespräch mit Robin Rehmann erzählt Selina, wie die Anorexie sie beinahe in den Suizid geführt hat.

*Triggerwarnung: In diesem Beitrag geht es um eine Essstörung sowie selbstverletzendes Verhalten, das explizit beschrieben wird. Informationen und Ressourcen für Menschen, die an einer Essstörung leiden, sind verfügbar unter AES oder beim Netzwerk Essstörungen.*

Bis Selina 14 Jahre alt ist, führt sie ein ganz normales Leben. Gemeinsam mit ihrem Bruder und ihren Eltern wächst sie auf dem Land auf. Sie hat alles, was man braucht, und ist glücklich. Mit der Pubertät kommen die ersten Konflikte. Wovon andere junge Mädchen träumen - Rundungen, die erste Periode, Erfahrungen mit Jungs - hat Selina Albträume. «Ich war immer sehr schlank und hatte Angst, dass sich das in der Pubertät verändert», sagt Selina. Sie interessiert sich nicht für Sexualität. Im Gegenteil. Berührungen ekeln sie an. Um der Entwicklung zur Frau entgegen zu steuern, trifft Selina eine Entscheidung mit vielen Folgen: Sie möchte ihr damaliges Gewicht halten. Mit diesem Entscheid öffnet sie der Essstörung namens «Anorexia nervosa» alle Türen.

Demigirl

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Selina identifiziert sich als Demigirl. Das bedeutet, dass sie sich nur teilweise als eine Frau oder ein Mädchen fühlt. Sie möchte aber trotzdem mit den Pronomen «sie/ihr» angesprochen werden.

Selinas Abneigung gegenüber Sexualität wird Asexualität genannt. Das Wort bezeichnet die Abwesenheit sexueller Anziehung gegenüber anderen, fehlendes Interesse an Sex oder ein nicht vorhandenes Verlangen danach.

Sie kann die Essstörung lange geheim halten. Erst in einem Klassenlager fällt ihr Verhalten auf. Selina isst gar nichts mehr, weil sie denkt, dass das im Lager niemand kontrolliert. Als sie mit einer Mädchengruppe Sport macht, kann sie sich nach dem Baden nicht erholen, zittert, wird überall blau. Am zweiten Lagertag hat sie Bauchweh und Durchfall. Den Lehrpersonen fällt das auf, worauf Selina sich und den Eltern die Essstörung eingestehen muss.

S.O.S. – Sick of Silence

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Wie sieht das Leben junger Menschen aus, nachdem es durch eine chronische Krankheit ausgebremst wurde? Robin Rehmann leidet selbst an einer chronischen Krankheit und unterhält sich in seiner Sendung mit Betroffenen.

Jeden Dienstag, 18-19 Uhr bei SRF Virus oder hier als Podcast.

Selina bekommt daraufhin therapeutische Hilfe, wird in diversen Kliniken behandelt. Die Klinikaufenthalte helfen ihr, an Gewicht zuzunehmen. «Ich habe dort tolle Leute kennengelernt, mit denen ich mich austauschen konnte». Doch nach den Aufenthalten kommt Selina immer wieder in das alte Setting zurück. Sie isst tagelang fast nichts und nimmt wieder ab.

Die Stimme im Kopf

Aber irgendwann fängt sich ihr Körper an zu wehren. Selina verspürt extremen Hunger. Ihr Körper hat genug von der Unterernährung und möchte alles an Essen und Energie zurückholen, das ihm über Jahre verwehrt wurde. Selina ist wie auf Autopilot und isst alles, was der Körper an «ungesunden» Nahrungsmitteln verlangt.

Der Hunger sollte mir eigentlich das Leben retten, hat es mir aber mehrmals fast genommen.

Nach diesen Kontrollverlusten ist Selina wütend auf sich. Es gibt eine Stimme in ihrem Kopf, die sie dafür verurteilt, sich dem Hunger nicht widersetzt zu haben. «Die Anorexie hackt den ganzen Tag auf mir rum und sagt mir, dass ich weniger essen soll». Selina steht stundenlang im Einkaufsladen, nimmt ein Produkt in die Hand und legt es wieder zurück. Es ist ein Kampf, der sich immer wieder in ihrem Inneren abspielt. Der Hunger will befriedigt werden, aber die Stimme im Kopf wehrt sich dagegen. Und wenn der Hunger siegt, fühlt sich Selina schlecht.

Zuerst fängt sich Selina an zu kratzen und bestraft sich damit selbst. Irgendwann reicht ihr das nicht mehr, sie verletzt sich mit Rasierklingen. Im März 2018 will sie sich zum ersten Mal das Leben nehmen. «Der Hunger sollte mir eigentlich das Leben retten, hat es mir aber mehrmals fast genommen». Am Tag des geplanten Suizids geht Selina zu einer letzten Besprechung bei ihrer Psychologin. Selina ist komisch drauf, ein Teil von ihr will um Hilfe schreien. Sie gesteht ihr Vorhaben. Bevor der Krankenwagen ankommt, hat Selina bereits eine gefährliche Menge Tabletten geschluckt. Sie wird direkt ins Krankenhaus gefahren.

Die Pfleger sind überfordert.

Daraufhin kommt sie in die geschlossene Psychiatrie. Dort ist ihr nicht wohl, sie fühlt sich allein gelassen. Menschen mit diversen psychischen Krankheiten kommen auf dieselbe Station. Selina fängt an, sich um andere Leute zu kümmern, anstatt um sich selbst. «Die Pfleger sind überfordert, die können gar nicht auf jeden eingehen». Einmal die Woche sieht Selina für 15 Minuten einen Arzt. Die Schlaftabletten werden ihr weggenommen, sie macht kein Auge mehr zu. Selina versucht noch zwei weitere Male ihr Leben zu beenden. Insgesamt ist sie drei Mal in einer psychiatrischen Akutklinik.

Selina kämpft jeden Tag weiter

Heute sieht Selina gesund aus. Doch auch wenn man ihr es nicht ansieht, die Stimme in ihrem Kopf ist trotzdem noch ihr täglicher Begleiter. «Auch wenn es dem Körper gut geht, kann es mir psychisch schlecht gehen». Um ihre Krankheit zu verarbeiten, schreibt Selina seit Beginn über ihre Erlebnisse, ihre Geschichte, ihre Ängste und ihre Hoffnungen. Die Notizen hat sie zu einem Buch verarbeitet: «1000 Narben». Mit ihrer Geschichte möchte sie anderen Betroffenen Mut machen und Kraft geben, vor allem aber möchte sie die Leute über atypische Anorexie aufzuklären. Deshalb spricht sie heute offen über ihre Essstörung und geht auch auf Social Media an die Öffentlichkeit, um das Tabuthema zu brechen.

Atypische Anorexie

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Als atypische Anorexia nervosa bezeichnen Psychologen*innen eine Magersucht, die nicht die typischen Krankheitssymptome aufweist. Zwar sind die Betroffenen nicht unmittelbar vom Verhungern bedroht, die psychische Belastung ist bei ihnen aber ebenso hoch wie bei Patienten mit typischer Magersucht – und auch ihre körperliche Gesundheit ist aufgrund der Mangelernährung in Gefahr.

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