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«Sie steckten mich sediert in eine Gummizelle»
Aus Rehmann vom 02.11.2020.
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Rehmann «Sie steckten mich sediert in eine Gummizelle»

«Sei nicht so sensibel» – ein lapidarer Satz, den sich Gisèle (32) oft anhören muss. Für sie war ihre Hochsensibilität jahrelang eine Bürde, mit der sie umzugehen lernen musste, wie sie bei Robin Rehmann erzählt.

An ihre Kindheit erinnert sich Gisèle nicht allzu gerne zurück. Konfrontiert mit einem damals alkoholkranken Vater und einer schwer zugänglichen Mutter, wächst die heute 32-Jährige mit Mangel an Stabilität und Urvertrauen auf. «Das Urvertrauen fehlt mir bis heute. Dort, wo andere das haben, ist bei mir ein schwarzes Loch, das einfach nicht voll wird.» Früh spürt sie, dass sie «anders» ist, sensibler und sensitiver. Sie spürt mehr – sowohl von den eigenen Emotionen – als auch von anderen.

«Du hast aber auch schon Cellulite»

Die Pubertät mit ihrem Gefühlswirrwarr erlebt Gisèle mit ihrer hohen Sensibilität als Herausforderung. Das «Sich ‹anders› fühlen» kann sie nicht einordnen, fühlt sich irgendwie falsch. Im Schulsport wird Gisèle, damals 13-jährig, von einer Schülerin mit dem Kommentar, sie habe schon viel Cellulite, abwertend angeschaut. Ab diesem Moment findet sie sich eklig, wenn sie in den Spiegel schaut und übergibt sich nach dem Essen. «Ich fühlte mich ja schon immer anders und war ab da sicher, dass ich falsch bin, weil ich eklig bin.»

Stell dich nicht so an

Im Gymnasium angekommen muss sie erst einmal mit den vielen Leuten und Eindrücken klarkommen. «Für mich eine totale Reizüberflutung.» Doch ihren innerlichen Kampf macht sie mit gespieltem Selbstvertrauen wett, obwohl sie innerlich stark an sich und ihrem Äusseren zweifelt. Irgendwann beginnt sie die Überreizung mit selbstverletzendem Verhalten abzubauen – immer versteckt, damit es niemand sieht. «Es begann wie bei vielen anderen. Jemand im Reitlager hatte sich Eminem auf den Arm geritzt, was ich cool fand.»

«Ich wollte nur noch schlafen»

Auch mit Beziehungen hat Gisèle Probleme: «Meine ersten Freunde waren mit mir überfordert.» Als ihre erste grosse Liebe die Beziehung beendet, fällt sie in ein grosses Loch. Sie nimmt ein Messer zur Hand, weint und weiss nicht, wie sie das unfassbar grosse Gefühl der Einsamkeit und Enttäuschung verdauen kann. «Ich dachte, dass mich niemand lieben kann, dass ich einfach falsch bin. Ich wollte nicht sterben, wusste aber auch nicht, wie es weitergehen soll.» Mit dem Messer in der Hand wird sie von der Mutter entdeckt und in die Psychiatrie eingewiesen. Was folgt, ist der absolute Horror für Gisèle: Gummizelle, Sedierung und viel Kontakt mit psychisch schwer kranken Menschen. «Irgendwie hat nie jemand einmal mit mir gesprochen und mich gefragt, wie es mir geht. Drei Wochen in der Akutstation der Psychiatrie mit vielen psychisch kranken Menschen waren für mich als Hochsensible der Horror – und bei mir blieb das Gefühl, wenn ich meine Gefühle zeige, werde ich weggesperrt und bin ein Psycho.»

S.O.S. – Sick of Silence

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Wie sieht das Leben junger Menschen aus, nachdem es durch eine chronische Krankheit ausgebremst wurde? Robin Rehmann leidet selbst an einer chronischen Krankheit und unterhält sich in seiner Sendung mit Betroffenen.

Jeden Dienstag, 18-19 Uhr bei SRF Virus oder hier als Podcast.

Danach beginnt für die Ostschweizerin eine Zeit mit wechselnden Therapeuten und Medikamenten. Sie versucht ihre starken Gefühle in den Griff zu bekommen und sich nicht mehr anders zu fühlen. Vor allem das Beruhigungsmittel Xanax wird zum stetigen Begleiter. Sie beginnt in der Modeszene zu arbeiten, obwohl ihr Selbstbewusstsein immer noch sehr schlecht ist und sie oft Panikattacken hat. Lange scheinen Beruhigungsmittel zum Abmildern der starken Gefühle ein vermeintlich guter Ausgleich zu sein – Mitte 20 verliert Gisèle die Kontrolle und nimmt zu viele Tabletten ein: «Ich wollte nur noch schlafen.»

Eine Kollegin entdeckt sie und bringt sie in den Notfall. Die Ärzte befanden die eingenommene Dosis zu gering, um weitere Massnahmen zu ergreifen und schicken sie wieder nach Hause. Gisèle erkennt, dass sie ihr Leben und ihre Gefühle ordnen muss und ab sofort ohne Tabletten leben möchte, die ihre Gefühle betäuben. Sie sucht nach einem neuen Ventil, um ihre Gefühle regulieren zu können. Dieses findet sie im Fitness und in der Arbeit. Sie schuftet verbissen und ist tagtäglich im Gym. Sie scheint nach aussen endlich stabil.

«So konnte ich auch für mich Frieden schliessen»

Gisèle übernimmt die Geschäftsleitung eines Unternehmens und will alles richtig machen. Sie habe versucht, die fehlende Bestätigung aus der Kindheit mit einer erfolgreichen Karriere zu erhalten. Sie schaufelt sich bergeweise Arbeit auf ihren Tisch und schaltet ihre Gefühle aus: «Ich war ein Roboter.»

Das macht sie, bis ihr Körper vor einem halben Jahr nicht mehr mitmacht. Während eines Online-Meetings erhält sie eine aufbrausende E-Mail, bleibt aber während der Sitzung vorerst ruhig. Unmittelbar nach dem Verlassen des Webcalls ist das Fass aber voll: Sie erleidet einen Nervenzusammenbruch, schreit herum und schlägt Dinge in Greifnähe klein. Die Versuche ihres Mannes, sie zu beruhigen, scheitern.

Sie wird krankgeschrieben und findet einen Therapeuten, der ihr beibringt, ihre Hochsensibilität anzunehmen. Sie beschliesst, die Verantwortung für ihr Leben in die Hand zu nehmen. Sie setzt sich erneut intensiv mit ihrer Hochsensitivität auseinander und schliesst Frieden mit ihren Eltern. «So konnte ich auch für mich Frieden schliessen.»

Mein Körper hat mich vor Schlimmerem bewahrt

Heute hilft es ihr, dass sie eine gesunde Struktur in ihren Alltag gebracht hat und beschlossen hat, ihre Hochsensibilität radikal zu leben. Sie hinterfragt sich selbst und geht mit ihren Gefühlen viel offener um. Vor allem kann Gisèle heute von sich selbst behaupten: «Es geht mir zum ersten Mal in meinem Leben richtig gut und ich habe gelernt, dass ich nicht falsch bin. Ich bin so, wie ich bin – mit all meinen Gefühlen. Niemand wird falsch geboren!»

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