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Verhalten in der Coronakrise Darum sollten wir aufhören von «Social Distancing» zu sprechen

«Social Distancing» ist in aller Munde. Soziale Distanz, wie der Begriff auf Deutsch heisst, ist in Zeiten wie diesen aber genau das Gegenteil von dem, das uns eigentlich gut tun würde, wie dir eine Psychotherapeutin erklärt. Es ist lediglich die physische Distanz, die wir wahren sollten.

Am 20. März kam der Begriff «Physical Distancing» anstelle von «Social Distancing» in einer Konferenz der WHO auf. Damit beschäftigen sich seither Aron und seine Mitkomilliton*innen an der Zürcher Hochschule der Künste. Denn: Begriffe und wie wir sie verwenden, schaffen Bilder im Kopf. «Asylflut beispielsweise schafft das Bild von etwas Unaufhaltbarem, das wir nicht mehr kontrollieren können.» Dasselbe passiere bei «Social Distancing». «Das Sozialleben besteht ja nicht nur aus physischem Kontakt.» Aus diesem Grund machen es sich die ZHdK-Studenten zur Aufgabe, den Begriff «Physical Distancing» in den Köpfen der Menschen zu festigen.

Wir haben mit einer Psychologin darüber gesprochen, wie wichtig es ist, trotz schwieriger Umstände soziale Kontakte zu pflegen und darüber, warum der Verzicht auf physischen Kontakt so schwierig ist.

Soziale Nähe ist jetzt wichtig

Lic. Phil. Andrea Bender, selbstständige Psychotherapeutin meint: «‹Social Distancing› wird als Begriff gerade weltweit verwendet, gemeint ist aber eigentlich ‹Physical Distancing›.» Es beziehe sich auf den körperlichen Abstand zueinander, um das Ansteckungsrisiko mit COVID-19 zu reduzieren.

Lic. Phil. Andrea Bender

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Lic. Phil. Andrea Bender ist selbstständige Psychotherapeutin und Dozentin am Klaus-Grawe-Institut in Zürich.

Zudem unterrichtet sie Achtsamkeitskurse wie MBSR (Mindfulness-based Stress Reduction) und MSC (Mindful Self-Compassion).

Wir müssen uns körperlich distanzieren, jedoch ist gerade in dieser Zeit die soziale oder emotionale Nähe und Verbundenheit umso wichtiger.

Für die Psychotherapeutin ist nämlich klar: Soziale Nähe ist in der jetzigen Situation das A und O: «Wir müssen uns körperlich distanzieren, jedoch ist gerade in dieser Zeit die soziale oder emotionale Nähe und Verbundenheit umso wichtiger. Trotz körperlicher Distanz können wir uns sehr wohl verbunden fühlen und auch emotional nahe.» Emotionale Einsamkeit könne nämlich die Grundlage für psychische Erkrankungen wie Depressionen oder Angst sein.

Warum fällt es uns so schwer, physische Distanz zu halten?

Es ist eine sehr starke Gewohnheit, sich gegenseitig zu berühren und wie wir alle wissen, ist es schwierig, eine Gewohnheit aufzugeben.

Kulturell bedingt gelte es bei uns als unhöflich, beispielsweise jemandem zur Begrüssung die Hand nicht zu geben. «Es ist eine sehr starke Gewohnheit, sich gegenseitig zu berühren», erklärt die Psychotherapeutin, «und wie wir alle wissen, ist es schwierig, eine Gewohnheit aufzugeben.»

Einigen Menschen falle es gar leichter, Zuneigung über Körperkontakt zu zeigen als mit Worten, fügt sie an.

Dann wäre da noch das Vertrauenshormon Oxytocin (übrigens auch bekannt als Kuschelhormon). «Durch körperlichen Kontakt kann Oxytocin ausgeschüttet werden.» Oxytocin wirke vertrauensfördernd, reduziere Stress und Angst, sagt Andrea Bender. «Es stärkt zudem unsere Empathie, unser soziales Denken und unser Zugehörigkeitsgefühl. So hilft es dabei, dass wir uns geborgen und sicher fühlen können.»

Wir sind voneinander abhängig und wenn wir alle zusammenhalten und zusammenarbeiten, funktionieren wir am besten.

Interessant findet die Psychotherapeutin: «Oxytocin ist ein Stresshormon und es scheint, als hätte die Natur die Ausschüttung des Hormons eingerichtet, um uns besonders in Stresssituationen zu unterstützen und die Solidarität untereinander zu fördern.» Evolutionstheoretisch sei das sehr sinnvoll, denn überleben können wir nur in der Gemeinschaft. «Was uns aktuell wieder ganz stark vor Augen geführt wird. Wir sind voneinander abhängig und wenn wir alle zusammenhalten und zusammenarbeiten, funktionieren wir am besten», merkt sie an.

Sag tschüss zu «Social Distancing»

Heisst also für dich: Obwohl du deine Liebsten und Nächsten momentan nicht umarmen kannst, bleib mit ihnen in Kontakt. Egal ob über Sprachnachrichten, Videocalls, Telefonate oder Old-School-Briefe. «Das Teilen von Sorgen, Ängsten und Verletzlichkeit führt zu mehr emotionaler Nähe und hilft uns die Belastung zu reduzieren und auch, um uns davon abzulenken», ergänzt Andrea Bender.

Das Schlimmste wäre jetzt also, dein Sozialleben ganz zu kippen, du solltest dich nur physisch von deinen Mitmenschen distanzieren – und dich vom Begriff «Social Distancing» ein für allemal verabschieden. Wir praktizieren «Physical Distancing».

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