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Abwanderung Berggebiet Albinen – ein Dorf kämpft ums Überleben

Die Oberwalliser Gemeinde Albinen will mit grosszügigen Geldbeträgen die Abwanderung der Jungen stoppen. Ob das funktioniert?

Es ist ein letztes Aufbäumen. Oder wie es der Gemeindepräsident Beat Jost formuliert: «Verlieren können wir dann, wenn wir alles versucht haben.»

Im Oberwalliser Bergdorf Albinen regnet es in Strömen. Beat Jost schreitet die mit Kopfstein gepflasterte Kirchgasse hinauf. Er ist verärgert. «Nach einem herrlichen Sommer kommt ihr ausgerechnet am ersten Schlechtwettertag filmen», sagt der ehemalige Gewerkschafter und Journalist.

Er weiss um die Macht der Bilder. Schlechte Presse kann er für sein Dorf nicht gebrauchen. Es geht ums Überleben. Die Hälfte der Bevölkerung ist über 60 Jahre alt. Die Jungen sind in den letzten Jahrzehnten – wie in vielen anderen Bergregionen – weggezogen. Jost sagt, das Dorf stehe kurz vor dem Tod.

Geld gegen Einwohner

Um ihre Heimat zu retten, skizzierten Junge aus dem Dorf eine Idee, die der Gemeinde Mitte 2017 quasi über Nacht zu weltweitem Ruhm verhalf: Wer sich in Albinen niederlässt, jünger als 45 Jahre alt ist, mindestens 200’000 Schweizer Franken im Dorf investiert und einige zusätzliche Kriterien erfüllt, kriegt von der Gemeinde 25’000 Franken. Für Kinder gibt’s zusätzlich Geld.

Daraufhin trafen Tausende von Anfragen aus aller Welt in der Oberwalliser Gemeinde ein. Das Dorf war in Aufruhr.

Die Einheimischen hiessen das Förderprogramm zwar mit deutlicher Mehrheit gut, manche Familien entzweit diese Frage aber bis heute. «Die haben hier noch nie einen Franken Steuern bezahlt, weshalb sollen die nun Geld erhalten?», enerviert sich etwa die Alteingesessene Elvira Mathieu. Sie ist dagegen, einer ihrer Söhne dafür und ein Enkel profitiert bereits von der Wohnbau- und Familienförderung.

Junge sollen sich einbringen im Dorf

«Ich bin für schonungslose Offenheit und Transparenz», sagt Gemeindepräsident Beat Jost. Da laufe man auch Gefahr, Leute zu verärgern und nicht allen zu gefallen. Der Weg sei steinig und Garantie für den Erfolg gebe es nicht.

Doch die Zeit der Dorfkönige sei vorbei, parteipolitische Grabenkämpfe könne man sich nicht mehr leisten. Nun gehe es um alles oder nichts.

Der aktuelle Gemeinderat ist auf einer Liste angetreten: Gemeinsam für Albinen. Die Parteizugehörigkeit muss Nebensache bleiben. «Wenn sich Junge nicht einbringen können und mit ihren Ideen auflaufen, machen sie die Faust im Sack und gehen», ist Jost überzeugt.

Verschiedene Spurgruppen und ein «5-Sterne-Dorfplan» sollen die Grundlage dafür schaffen, dem Dorf neues Leben einzuhauchen. Für diese Bemühungen gab’s im letzten Jahr den Oberwalliser Heimatschutzpreis: Albinen gehe beispielhaft voran, wie ein kleines Bergdorf wieder identitätsstiftend sein könne, so der Heimatschutz in seiner Festrede.

«Mehr Geld vom Bund braucht es nicht»

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Heike Mayer ist Professorin für Wirtschaftsgeographie an der Universität Bern.

SRF: Warum findet seit Jahrzehnten eine Abwanderung aus den Berggebieten statt?

Heike Mayer: Die Entleerung der Berggebiete ist nicht nur ein Problem in der Schweiz, auch Frankreich oder Italien sind von dieser Schrumpfung betroffen. Vor allem junge Menschen zieht es in die Städte. Während die urbanen Räume an Attraktivität gewonnen haben, gerieten die ländlichen Regionen ins Hintertreffen. Eben auch weil die dortigen Branchen einem Strukturwandel unterliegen.

Liesse sich diese mit mehr Geld und Investitionen vom Bund stoppen?

Mehr Geld vom Bund braucht es nicht. Es gibt bereits Instrumente, wie den Finanzausgleich oder die «Neue Regionalpolitik», die in diesen Regionen eingesetzt werden können. Das setzt aber voraus, dass bereits Potential vorhanden ist.

Für Regionen, die jedoch von Schrumpfung und Abwanderung betroffen sind, braucht es andere Ansätze. Hier sind Ideen gefragt, wie zum Beispiel die Grundversorgung gewährleistet werden soll oder wie mit Leerständen im Dorfkern umgegangen wird.

Diese neuen Ideen passen nicht in ein wettbewerbsorientiertes Schema. Vielmehr sind es soziale Innovationen, die entwickelt und unterstützt werden müssen. Das neue Berggebietsprogramm des Bundes, welches 2020 umgesetzt werden wird, müsste diesem Aspekt gerecht werden.

Albinen versucht u.a. mit Geld Junge ins Dorf zu holen. Kann das funktionieren?

Unter Umständen ja. Es braucht aber auch Erwerbsmöglichkeiten für diese jungen Menschen, die dort Fuss fassen. Sei es Arbeitsplätze oder unternehmerische Möglichkeiten.

Was sind aus Ihrer Sicht die Chancen des Berggebietes?

Das Berggebiet hat vielfältige Chancen. Es gibt Möglichkeiten im nachhaltigen, sanften Tourismus. Auch bietet das Berggebiet in Verbindung mit der Stadt einen Ausgleich in dieser hektischen, globalisierten Welt.

Projekte wie MiaEngiadina, bei dem Menschen aus der Stadt im Engadin zeitweise arbeiten können, sind ein Vorbild für andere Regionen.

Gibt es Anzeichen dafür, dass die Abwanderung aus den Bergregionen nicht ungehindert weitergeht?

Leider noch nicht, beziehungsweise nur selektiv. Wir haben vor ein paar Jahren das Phänomen der «New Highlander» untersucht. Hier geht es um Menschen, die aus der Stadt in die Berggebiete ziehen.

Die Zahlen sind noch nicht gross, doch in einem kleinen Bergdorf machen Zugezogene, die eine Unternehmen gründen oder eine Käserei übernehmen, einen grossen Unterschied.

Von den Philippinen nach Albinen

Elma Anthamatten hat im Sommer 2018 gemeinsam mit ihrem Freund Roger Haudenschild in Albinen ein Haus gekauft. Seit dem Inkrafttreten des Förderprogramms wurden nebst ihrem Gesuch noch sechs andere Anträge bewilligt.

Die gebürtige Philippinin arbeitet seit sechs Jahren in einer Fischfabrik in Raron. Damit erfüllt sie sämtliche Voraussetzungen, die Ausländer mitbringen müssen, um vom Albiner Förderprogramm zu profitieren.

Gelandet ist sie zufällig. Sie kannte das Dorf nicht mal vom Hörensagen. Dank ihrem Freund Roger Haudenschild sei sie hergekommen und ist begeistert von der Gegend:

«Ich bin auf den Philippinen in einer Bergregion aufgewachsen. Albinen erinnert mich an meine Heimat!»

Roger Haudenschild verbrachte bereits einen Teil seiner Jugend hier oben und arbeitet derzeit als Koch im Restaurant seiner Mutter, mitten im alten Dorfkern. Der Zustupf der Gemeinde sei für den Hauskauf und die Rückkehr nach Albinen ausschlaggebend gewesen, sagt er. «Nun werde ich sesshaft!».

Sollten es sich die beiden innerhalb von 10 Jahren anders überlegen und wieder wegziehen, geht das Geld zurück an die Gemeinde.

Wo die Schweiz wächst – und wo sie schrumpft

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Die Schweiz ist zwischen 1981 und 2015 um über zwei Millionen Menschen gewachsen – vor allem im Mitteland und in der Westschweiz. Wie hat sich ihr Wohnort verändert? Hier geht es zur interaktiven Karte.

Realistisch sein und das Unmögliche versuchen

Insgesamt rund 250’000 Franken hat die Gemeinde die Wohnbauförderung bisher gekostet. Dafür hätten die Zugezogenen fast drei Millionen im Dorf investiert, sagt Gemeindepräsident Beat Jost.

Die Rechnung gehe auf. Dieser Teil war für die Gemeinde absehbar. Wie viele Leute vom Programm Gebrauch machen würden, war allerdings ungewiss. «Es hätte nicht besser laufen können», sagt Jost. Drei neue Gesuche sind bereits wieder hängig und die Gemeinde hat das Wohnbaubudget für 2019 aufgestockt.

Beat Jost wagt zu träumen: Von Pausenlärm und Kindern im Dorf, welche das Schulzimmer wieder füllen. Vor zehn Jahren musste die Schule geschlossen werden. Er könne verstehen, wenn die Leute im Dorf solchen Träumen wenig Glauben schenkten. Man habe hier oben schon so vieles verschwinden sehen, sagt er. Doch für ihn gilt: «Seien wir realistisch, versuchen wir das Unmögliche.»

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