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Menschen auf Rolltreppe
Legende: Angsterkrankungen können den Alltag sehr einschränken. Viele Betroffene verlieren ihre Arbeitsstelle. SRF

Angst- und Panikattacken Wenn Angst krank macht

Angst erlebt jeder. Vorsicht und Angst bei Gefahren schützen uns. Doch nicht immer ist die Angst rational begründet. Bei nicht wenigen Menschen geraten die Ängste ausser Kontrolle, setzen sich ab von einer realen Bedrohung. Sie übersteigern sich ins Krankhafte und werden zu einer Angststörung.

Marcel hatte grosse Mühe, Zug zu fahren

Marcel Meier fährt mit dem Zug von Zürich nach Bern. Er erzählt davon, wie er früher nur unter grössten Schwierigkeiten fähig war, mit Zügen zu fahren.

Während dreissig Jahren war dies für ihn ein grosses Problem. Er befürchtete jedes Mal, eine Panikattacke zu erleiden und stand grosse Ängste aus. Erst seit einigen Jahren kann er wieder einigermassen «normal» einen Zug besteigen.

Angststörungen sind oft ein Tabu

Häufig geht die Angststörung etwas «vergessen». Obwohl sie nach der Depression die zweithäufigste psychische Erkrankung darstellt, ist in der Öffentlichkeit eher die Rede von Schizophrenie, Burnout und Persönlichkeitsstörungen wie «Borderline».

Angststörungen sind tabuisiert; nur selten stehen Betroffene in ihrem sozialen Umfeld dazu, dass sie darunter leiden. Es hat sich gezeigt, dass Aufklärungsarbeit im Bereich der psychischen Störungen wesentlich zur Linderung des Leidens beitragen kann, da die Betroffenen sich so besser akzeptiert und verstanden fühlen.

Was sind Angststörungen und Panikattacken?

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Von Angststörung spricht man wenn eine Angst keine realen, objektivierbaren Grundlagen hat, wenn sie von den Betroffenen nicht erklärt und nicht bewältigt werden kann und wenn sie die Betroffenen veranlasst, als «gefährlich» taxierte Situationen oder Objekte zu meiden.

Eine Panikattacke ist eine bestimmte Form der Angststörung. Sie ist eine anfallsartige schwere bis schwerste Angst, die aus heiterem Himmel kommt. Inhalt ist immer die Angst, den Verstand zu verlieren, irgendwie kaputt zu gehen oder tot umzufallen.

Conny litt unter Todesangst

Panikattacken erleben die Betroffenen sehr körperlich, sie haben das Gefühl, sterben zu müssen. Erst genaue Abklärungen können zeigen, dass die Ursache psychisch ist.

Übersteigerte Ängste und Panikattacken können dazu führen, dass sich die Betroffenen aus dem gesellschaftlichen Leben zurückziehen und sich isolieren. Das kann so weit gehen, dass sie kaum mehr ihre eigenen vier Wände verlassen.

Viele Betroffene verlieren ihre Stelle

Ihre Lebensqualität ist stark beeinträchtigt und die Ängste sind ein alles überdeckenden Gefühl.

Schwere Fälle von Angststörungen führen oft dazu, dass die Betroffenen ihre Stelle verlieren und Mühe haben, wieder eine Anstellung zu finden. So gibt es eine beachtliche Zahl von Betroffenen, die auf die Unterstützung der IV angewiesen sind.

Claudia fühlt sich daheim oder im Auto sicher

Claudia Moser kann ihre Wohnung kaum verlassen. Nach wenigen Schritten zwingt sie ihre Angststörung zur Umkehr. Sie kann auch nicht erklären, wieso das so ist, doch nach fünfzig Metern beginnt ihr Herz zu rasen und sie befürchtet, eine Panikattacke zu erleiden.

Nur in ihrem Auto fühlt sie sich sicher. Aussteigen geht aber nur, wenn sie unmittelbar vor dem Ort parkieren kann, wo sie hin möchte. So kauft sie nicht in grösseren Lebensmittelgeschäften ein, sondern muss in kleine Läden gehen. Obwohl Claudia schon lange unter Angststörungen litt, dauerte es sechs Jahre, bis die richtige Diagnose gestellt wurde.

Seit einem Jahr bezieht Claudia Moser eine volle IV-Rente, was für sie eine grosse Erleichterung bedeutet. Vorher arbeitete sie lange Jahre im pflegerischen Bereich und zog zwei Töchter gross. Heute sind sie 10 und 18 Jahre alt.

Geld war immer knapp und sie kämpft mit ihren psychischen Problemen. Heute lebt Claudia als Single und kann das überschaubare Leben recht gut bewältigen. Ihr Alltag bleibt stark eingeschränkt und sie lebt auf kleinem Raum. Doch sie hat einen Weg gefunden, mit ihrer Krankheit umzugehen.

Angststörungen in der Schweiz

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Im Jahr 2016 lancierte pro infirmis die Kampagne «Angst lähmt». Die Behindertenorganisation machte die Öffentlichkeit darauf aufmerksam, dass in der Schweiz rund 800'000 Menschen an Angststörungen leiden.

Laut Psychologin Dorothee Schmid ist davon auszugehen, dass etwa 60 Prozent der Menschen mit Angstsymptomen nie therapeutische Hilfe in Anspruch nehmen.

Angststörungen bleiben lange unerkannt

Die Dunkelziffer von nicht diagnostizierten Angststörungen ist gross. Experten sprechen von bis zu 60 Prozent aller Fälle. Nicht therapiert können sich Angststörungen chronifizieren und zu einer schwerwiegenden psychischen Krankheit entwickeln. Frühzeitig erkannt und behandelt, besteht aber eine gute Chance zur Heilung.

Anlaufstellen für Betroffene

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Dorothee Schmid ist Fachpsychologin für Psychotherapie und leitet den Kompetenzbereich Angst- und Zwangsstörungen der Privatklinik Wyss in Münchenbuchsee. Im Interview erklärt sie, weshalb Angststörungen lange unerkannt bleiben und welche Heilungschancen es gibt.

Dorothee Schmid
Legende: Psychologin Dorothee Schmid sieht gute Heilungschancen für Betroffene. SRF

SRF: Wieso dauert die Diagnose so lange?

Dorothee Schmid: Dafür gibt es mehrere Gründe. Angststörungen gehen fast immer mit starken Körpersymptomen einher, die auch bei vielen somatischen Erkrankungen auftreten können. Daher suchen Betroffene meistens zuerst einen Arzt auf. Es folgen oft umfangreiche körperliche Untersuchungen, Abklärungen und Versuche mit medikamentöser Therapie.

Nicht alles davon ist nötig, sondern findet statt, weil der Arzt nicht erkennt, dass es sich um eine Angststörung handelt. Nicht vorhandenes diagnostisches Wissen führt dann zu langen Prozeduren mit vielen Abklärungs- und Behandlungsversuchen, oft über mehrere Jahre.

Selbstverständlich müssen jedoch notwendige somatische Abklärungen immer stattfinden. Es kann zum Beispiel sein, dass ein Angstpatient zusätzlich auch noch an einer körperlichen Krankheit leidet.

Nicht alle Betroffenen sind bereit, eine psychische Störung zu akzeptieren.

Ein weiterer wichtiger Grund liegt auf Patientenseite. Nicht alle Betroffenen sind bereit, bei sich das Vorliegen einer psychischen Störung zu akzeptieren. Daher vermeiden viele, überhaupt jemals einen Arzt oder einen Therapeuten aufzusuchen, und werden deshalb nicht korrekt oder gar nicht als Angstpatient diagnostiziert.

Damit ist auch erklärt, warum die korrekte Diagnosestellung nicht ganz einfach ist. Einerseits fehlt es vielen aufgesuchten (Haus-)Ärzten schlicht am entsprechenden Wissen, um insbesondere die starken körperlichen Symptome zuzuordnen; andererseits haben Betroffene vielfach grosse Hemmungen, eine Fachperson aufzusuchen.

Wie steht es um die Heilungschancen?

Die Chancen für Verbesserungen stehen gut. Bei etwa 70 bis 80 Prozent der Betroffenen kann mit der passenden Therapie eine bedeutsame, dauerhafte Besserung erreicht werden.

Nachgewiesenermassen ist die kognitive Verhaltenstherapie bei Angststörungen am besten wirksam. Kern der Therapie ist die Neubewertung der Angst, das Erlernen eines günstigeren Umgangs damit und die Veränderung der Beziehung des Betroffenen zu seiner Angst.

Die Konsequenz daraus ist, dass der Angstpatient lernt, dass Angst letztlich nichts ist, wovor er sich fürchten muss. Mit dieser Einsicht erlebt er auch die Auslöser der Angst als weniger oder sogar nicht mehr bedrohlich.

Beruhigungsmittel müssen als vorübergehende Therapie konzipiert sein.

Der Einsatz von Beruhigungsmitteln muss immer als vorübergehende, unterstützende Therapie konzipiert sein. Beruhigungsmittel sind keine eigenständige und schon gar keine nachhaltige Therapie bei Angststörungen, denn sie zeigen den Betroffenen keine Denk- und Verhaltensalternativen und verändern somit nichts am Problem.

Hingegen ist die medikamentöse Therapie von eventuell zusätzlich vorliegenden Störungen (z. B. Depressionen) nötig und angemessen.

Warum nehmen die Angststörungen bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen so stark zu?

Es gibt keine Hinweise darauf, dass Angststörungen bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen real zunehmen. Dieser Eindruck kommt vermutlich daher, dass Angststörungen häufig erstmals während der Kindheit oder Jugend auftreten (Höchstrisiko-Alter zwischen 10 und 25 Jahren).

Ein weiterer Punkt, der zum Eindruck führen kann, dass Angststörungen zunehmen, ist die Tatsache, dass die Inanspruchnahme von Therapieleistungen real angestiegen ist, allerdings ohne dass eine Zunahme von psychischen Störungen vorliegt.

Eine bessere Wahrnehmung von Störungen und eine verbesserte Gesundheitskompetenz können erklären, warum mehr Therapien in Anspruch genommen werden, auch wenn psychische Störungen nicht häufiger auftreten.

Das Gespräch führte Anna Urwyler.

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