Zum Inhalt springen

Behindertengleichstellung Vom täglichen Kampf um Selbstbestimmung und Akzeptanz

Die Gleichstellung von Menschen mit Behinderung ist mehr Wunschdenken als Realität. Das zeigen diese Geschichten von vier Menschen mit Handicap.

«Ich will nicht weitere 50 Jahre warten, bis Inklusion endlich salonfähig wird.» Islam Alijaj (34) muss im Kampf um gleiche Rechte für Menschen mit Behinderung keiner sagen, was zu tun ist. Er hat die Sache selbst in die Hand genommen.

Menschen mit Behinderung brauchen Unterstützung, die ihr Handicap egalisiert.
Autor: Islam Alijaj Handicap-Lobbyist

Der Handicap-Lobbyist gründete kürzlich in Zürich das «Ability Center», eine Anlaufstelle, die Projektideen von Menschen mit Beeinträchtigungen rascher und viel zahlreicher umsetzen will. «Menschen mit Behinderung brauchen Unterstützung, die ihr Handicap egalisiert. Erst dann können sie ihr wirkliches Potenzial entfalten. Ich will Fakten schaffen, weil sich sonst am Status von Menschen mit Handicap nie etwas ändern wird.»

Islam Alijaj ist aufgrund einer Cerebralparese körper- und sprechbehindert. Worte deutlich auszusprechen bedeutet Schwerstarbeit für ihn. Im totalen Kontrast dazu sein messerscharfer Verstand und seine brillante Rhetorik.

Hoch sind auch Alijajs Ziele: Er hat sich vorgenommen, das Schweizer Behindertenwesen umzupflügen. Weil das nur über die Politik geht, kandidierte er bei den Parlamentswahlen 2019 als Kandidat der Zürcher SP für den Nationalrat. Er scheiterte grandios.

Den Traum einer Polit-Karriere hat Islam Alijaj noch nicht begraben. Aber Priorität hat für den zweifachen Familienvater («meine Kinder sind gesund, schlau und schön») zurzeit klar die Arbeit als Handicap-Lobbyist.

So wie Islam Alijaj ticken auch andere. Zum Beispiel die nahezu blinde Geologin, Alpinistin und Politikerin Barbara Müller. Die 58-jährige Thurgauerin hat sich noch nie davon abbringen lassen, auch scheinbar unlösbare Herausforderungen zu meistern.

Mit all diesen bisherigen Gerichtsfällen hat man mindestens 250'000 Franken an Steuergeldern verschwendet. Darüber muss man sich im Klaren sein.
Autor: Barbara Müller Geologin

Sie schaffte trotz fortschreitender Erblindung ihren Doktortitel an der ETH Zürich. Eine akademische Karriere blieb ihr verwehrt. Für sie stand schon immer fest, dass eine Frau mit einer Behinderung gleich doppelt diskriminiert wird.

Barbara Müller ist eine streitbare Frau. Wenn es sein muss, zieht die Thurgauerin mit Behörden und Institutionen bis vor Bundesgericht. 5000 Seiten Akten, 17 Gerichtsverfahren, die Mehrzahl davon gewonnen.

Fast immer ging es um Hilfsmittel, die sie zum Arbeiten als freie Geologin und Forscherin braucht. «Mit all diesen bisherigen Gerichtsfällen hat man mindestens 250'000 Franken an Steuergeldern verschwendet. Darüber muss man sich im Klaren sein.»

Mit ihrer Hartnäckigkeit hat Barbara Müller einiges erreicht. Sie ist heute Gastdozentin an der Uni Basel, sie wurde im Frühling erfolgreich in den Thurgauer Kantonsrat wiedergewählt und leitet zudem ein Hilfsprojekt in ihrer zweiten Heimat Nepal.

Vielleicht hatte ich das Glück, dass der Unfall erst passierte, nachdem ich mich schon im Leben zu behaupten gelernt hatte.
Autor: David Mzee Sportlehrer

Bei David Mzee (31) war es weder Krankheit noch Geburtsgebrechen, das ihn in den Rollstuhl brachte – sondern das Pech der missglückten Landung eines 3-fach-Saltos während des Sportstudiums.

Der tragische Unfall war Ausgangspunkt einer Geschichte, die 2018 um die Welt ging und Mzee berühmt machte als «der Gelähmte, der wieder gehen lernt». Aus dem Rollstuhl zurück auf die Füsse. Möglich machte es eine revolutionäre Therapie, entwickelt an der EPFL Lausanne.

Für David Mzee zählt nur, was geht und nie, was nicht geht. Mit diesem Selbstverständnis erreichte er 2019 ein weiteres scheinbar unmögliches Ziel: Eine Festanstellung als Sportlehrer an der Wirtschaftsschule KV Wetzikon.

Mzee zweifelte nie daran, dass dieser Job vom Rollstuhl aus möglich ist. Warum ihm das Erreichen hochgesteckter Ziele leichter fällt als anderen, darüber kann er nur mutmassen: «Vielleicht hatte ich das Glück, dass der Unfall erst passierte, nachdem ich mich schon im Leben zu behaupten gelernt hatte.»

Ein selbstbestimmtes Leben: Was für die grosse Mehrheit selbstverständlich ist, müssen Handicapierte immer wieder und oft gegen Widerstände einfordern. Selbstbestimmung ist für sie umso wichtiger, wenn sie nicht mit einem langen Leben rechnen dürfen – wie etwa Amir Gashi.

Es ist ein Kampf, immer ein Kampf. Aber so kann ich mein Leben so leben, wie ich es auch wirklich leben möchte.
Autor: Amir Gashi Musikproduzent

Der 27-jährige ist Techno-DJ und Musikproduzent, aber auch seit der Kindheit unheilbar muskelkrank. Vor 5 Jahren zog Amir Gashi aus einem Wohnheim in die eigene Wohnung. Das ist möglich, weil sich pro Woche drei Betreuer den Alltag mit Amir teilen.

Gashi hat sich diese Freiheit erkämpft: «Es ist ein Kampf, immer ein Kampf. Aber so kann ich mein Leben so leben, wie ich es auch wirklich leben möchte.» Die Übernahme von Kosten durch die IV bleibt ein Dauerthema. Obwohl das Leben in einer Institution teurer käme.

Trotz schwierigem Alltag: Als DJ DFKT X lässt er sich nicht ausbremsen: Traum und Ziel bleiben eine internationale DJ-Karriere mit harten Technobeats.

Die Coronakrise hat Amir Gashis DJ-Pläne zurückgebunden. Die Zeit ohne Auftritte hat er als Musikproduzent genutzt, und anderem für das Arrangieren und Komponieren des Filmsoundtracks zum SRF-DOK «Handicap Behinderung».

Amir Gashi, David Mzee, Barbara Müller und Islam Alijaj. Vier Menschen mit Handicap, die ihre Lebens- und Karriereträume in die eigene Hand nehmen.

Das wahre Handicap ist aus ihrer Sicht nicht ihre Beeinträchtigung, sondern die fehlende Gleichstellung in der Gesellschaft und auf dem Arbeitsmarkt. Sie wollen für sich und andere kämpfen, bis Inklusion kein blosses Lippenbekenntnis mehr sein wird.

Meistgelesene Artikel