Der Notruf kommt um halb zehn: Zwei Bergsteiger sind am Viertausender Polllux in der Nähe von Zermatt abgestürzt. Sie brauchen Hilfe. Einer ist schwer verletzt.
Zwei lokale Bergführer sind bereits bei den Opfern und versuchen, den Mann, der regungslos in einer steilen Geröllhalde liegt, vor Auskühlung zu schützen.
Die Rettungszentrale der Air Zermatt alarmiert den Bergretter Richard Lehner. Er wird bei heiklen Einsätzen als Spezialist aufgeboten, wenn Gebirgs-Know-how gefragt ist.
Sein Hauptjob während der Sommersaison: Hüttenwart auf der modernen Monte-Rosa-Hütte in Zermatt. Diese liegt wenige Flugkilometer neben dem Berg.
Die meisten Rettungen sind eine Riesenkonzentration und ein Riesendruck.
Dem Bergretter bleiben sechs bis sieben Minuten Zeit, um sich für den Einsatz bereitzumachen: Helm mit Funk anziehen, eine Windjacke und einen Klettergurt.
«Die meisten Rettungen sind schon eine Riesenkonzentration und ein Riesendruck», schildert Richard Lehner die Anspannung. «Weil wir rund um die Uhr Pikett haben, kommen auch Anrufe in der Nacht, von Leuten, die nicht mehr weiterkommen am Berg.»
Richard Lehner macht seinen herausfordernden Job – wie alle Bergretter – im Nebenamt. Zermatt hat zehn Rettungsspezialisten, die vier bis fünf Wochen im Jahr auf Pikett sind. Es sind Bergführer, die eine Spezialausbildung gemacht haben.
Vom Rettungsjob leben kann man nicht.
Bergretter erhalten eine Jahresentschädigung für den Bereitschaftsdienst. Zudem werden sie von der Gemeinde Zermatt für jeden Pikett-Tag bezahlt. Davon leben könne man aber nicht, sagt Richard Lehner.
In den gut zwanzig Jahren als Bergretter hat Richard Lehner miterlebt, wie heute fast alle Notrufe per Handy hereinkommen. Doch die Technik hat auch ihre Tücken: «Mit den technischen Hilfsmitteln Handy und GPS besteht immer eine gewisse Gefahr, dass sich die Leute zu stark darauf verlassen.»
Heute besteht die Tendenz, zu viel Risiko einzugehen.
«Früher hat man eher umgedreht bei schlechtem Wetter und gesagt, okay, wir gehen in die Hütte zurück und brechen die Tour ab. Heute besteht die Tendenz, dank all den Hilfsmitteln und Rettungsmöglichkeiten zu weit zu gehen», gibt der Rettungsprofi zu bedenken.
Trotzdem gäben die Retter alles, um in Notsituationen zu helfen, soweit dabei nicht ihr eigenes Leben gefährdet werde, sagen Richard Lehner und sein Kollege, Pilot Robert Andenmatten, unisono.
Man darf die Einsätze nicht zu nahe an sich herankommen lassen.
Die beiden haben schon viele Rettungen gemeinsam erlebt. «Zu nahe kommen lassen darf man sich die Einsätze nicht», gibt Andenmatten zu bedenken.
«Wir hatten mal zusammen einen Einsatz auf dem Gornergletscher, der ist uns lange geblieben. Eine Familie ist über den Gletscher gewandert und ein Gletschertisch ist zusammengefallen. Er hat das Kind eingeklemmt. Es ist nachher verstorben», erinnert sich Richard Lehner. «Das ist uns lange nachgegangen.»
Blockierungen, das heisst Rettungen, ohne dass eine Verletzung vorliegt, haben schweizweit in den letzten Jahren zugenommen. Sie machen heute bis zu einem Drittel der Einsätze aus. «Die Leute sind bequemer geworden, gemütlicher», ist Air-Zermatt-Pilot Robert Andenmatten überzeugt.
Einen Tag später wird Richard Lehner Wanderer von der sogenannten «Haute Route» ausfliegen, die sich überschätzt haben und einen «Taxi-Flug» brauchen. Sie waren körperlich und mental erschöpft.
Etwa 700 Franken pro Kopf wird sie der Rettungsflug kosten. Nicht immer ist klar, ob eine Versicherung die Kosten übernimmt.
Den Rettungsjob macht man aus Leidenschaft, nicht weil man Anerkennung braucht.
Die zu Beginn erwähnte Aktion am Viertausender Pollux wird über fünf Stunden dauern. Nur mit Glück, viel Erfahrung und extremem Einsatz schafft es die Rettungscrew der Air Zermatt, den Verletzten auszufliegen.
Bei Kälte und extremen Windbedingungen. Die italienischen Bergretter hatten zuvor aufgegeben.
Richard Lehner ist überzeugt: «Wenn wir ihn zu Fuss hätten retten müssen, wäre das irgendwann, mit den Temperaturen, mit dem starken Wind, ein Rennen gegen die Zeit geworden.»
Ein Dankeschön hören die Retter, die auch ihr eigenes Leben aufs Spiel setzen, selten. Das wird auch bei der Pollux-Rettung nicht anders sein.
Richard Lehner hat sich daran gewöhnt: «Jemandem zu helfen, gibt Befriedigung. Den Job macht man aus Leidenschaft, auch für die Berge, nicht weil man Anerkennung braucht.»