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SRF DOK «Ein Land, zwei Gesellschaften, kaum Berührungspunkte»

Mit «24h Jerusalem» zeigt SRF zwei an Ostern einen Tag im Leben der Menschen in Jerusalem. Die Dreharbeiten zu diesem bombastischen Dokumentarfilm-Erlebnis sollten ursprünglich ein Jahr früher stattfinden. Produzent Thomas Kufus und Regisseur Volker Heise über die grossen Schwierigkeiten im Vorfeld.

SRF DOK: Der Drehtag war ursprünglich für den Spätsommer 2012 geplant. In letzter Minute musste er abgesagt werden, schlussendlich wurde im April 2013 gedreht. Was war passiert, warum kam es zu dieser Verschiebung?

Thomas Kufus: Wir sind nach Israel gegangen mit dem Wunsch, unser gesammeltes Wissen über das 24-stündige Format komplett an israelische und palästinensische Koproduktionspartner vor Ort zu übergeben, sie das fast autark produzieren zu lassen. Wie bei unserem Vorgängerprojekt «24h Berlin» wollten wir auch in Jerusalem die Bevölkerungsstruktur abbilden, es leben dort zwei Drittel Israelis und ein Drittel Palästinenser, dementsprechend hatte die Darstellung der israelischen Seite etwas mehr Gewicht. Nach zwei Jahren Vorbereitungszeit war der Drehtag dann für den 6. September 2012 geplant. Drei Wochen vor Drehbeginn gab es plötzlich erste Alarmzeichen seitens palästinensischer Boykottgruppen. Diese international organisierten Gruppierungen aus dem Umfeld der BDS-Kampagne (Boycott, Divestment and Sanctions campaign) reklamierten, das Projekt sei politisch nicht in Ordnung, es ergreife Partei für die Israelis, normalisiere den Zustand der Besetzung Jerusalems durch die Israelis und akzeptiere damit die Lebensumstände dort stillschweigend.

Wir haben die Explosivkraft dieses Projektes unterschätzt.

Innerhalb von wenigen Tagen waren alle palästinensischen Kreativen und auch die Protagonisten über diverse «social networks» zum Boykott aufgerufen worden. Und sind zwangsläufig ausgestiegen, nicht alle nur aus freiem Willen, sondern auch, weil sie verbal mit Telefonaten bedroht wurden. Am Tag vor dem geplanten Dreh musste das Projekt abgesagt werden, denn wir wollten in der geteilten Stadt kein Projekt herstellen, in dem nur Israelis vorkommen, wo nur sie drehen und die Interviews führen. Heute wissen wir, wir hätten von Beginn an beratende, unabhängige Institutionen, auch bezüglich Organisationsstruktur und Vorgehensweise, zu Rate ziehen müssen. Denn die lokalen Partner dort sind verständlicherweise zu sehr in den Konflikt und das Alltagsleben mit seinen Einschränkungen verstrickt und involviert. Wir haben die Explosivkraft dieses Projektes und dessen politische Bedeutung in der Stadt trotz für gut empfundener Planung unterschätzt und sind offen in den Boykott gerannt, der den Dreh im Spätsommer 2012 zum Scheitern brachte.

Wie hat sich das Projekt, die Organisationsstruktur nach dem Boykott verändert?

Thomas Kufus: Es gab viele Verhandlungen und dabei auch Forderungen, die wir nicht erfüllen konnten und wollten, wie z.B. die inhaltliche Einflussnahme der Palästinenser auf das Programm. Viele Seiten wollten mitreden. Da das Programm in Europa ausgestrahlt wurde, ging es auch um unsere christlichen und historischen Wurzeln in der Stadt, und nicht nur um den Konflikt. Herauskristallisiert hat sich dann die Idee, das Szenario neu aufzubauen mit einer paritätischen Aufteilung zwischen palästinensischen, israelischen und europäischen Teams und analoger Aufteilung dazu auch bei den Protagonisten.

Drei Tage vor Drehtag flammte erneut ein Boykott auf.

Eine Bedingung der palästinensischen Seite nach dem ersten Boykott war die «Separation»: Kein palästinensisches Team sollte mit Israelis zusammenkommen, alle Termine und die Planung mussten getrennt stattfinden. Gelder aus Jerusalem, die es zuvor von der Stadtverwaltung gegeben hatte, haben wir daher komplett zurückgegeben. Diese Konditionen konnten wir erfüllen. Entscheidend aber war, dass unser Projekt erst durch diesen Neuansatz eine echte Unabhängigkeit erlangte. Fortan waren wir die einzigen Produzenten, die mit unseren europäischen Partnern im Rücken agieren konnten. Durch sehr viel persönliche Überzeugungskraft konnten beide Seiten für diesen neuen Anlauf gewonnen werden. Drei Tage dann vor dem neu angesetzten Drehtag am 18. April 2013 flammte jedoch ein erneuter Boykott auf, verbunden mit dem ungerechtfertigten und auch für unsere palästinensischen Mitarbeiter ärgerlich klingenden Vorwurf der Parteinahme für Israel. Schliesslich wurde Teammitgliedern so sehr mit einschränkenden Konsequenzen gedroht, dass wir den Dreh der palästinensischen Teams zunächst absagen mussten. Mit den israelischen und europäischen Teams und Protagonisten drehten wir trotzdem und setzten auf die Kraft des Faktischen.

In Windeseile mussten wir neue Teams zusammenstellen, neue Drehorte und Protagonisten zuteilen.

Die Tatsache, dass Europäer und Israelis unbeirrt von der Absage auf palästinensischer Seite gedreht haben, hat sicherlich schnell dazu geführt, dass viele Palästinenser doch wieder zurückgekehrt sind. Denn sie wollten natürlich auch ihre Sicht auf Jerusalem beitragen. Das Fenster der Dreharbeiten haben wir kurzerhand für die palästinensische Seite erweitert, von ursprünglich einem auf drei Tage. In Windeseile mussten wir teils neue Teams zusammenstellen, neue Drehorte und Protagonisten zuteilen. Wir haben also das Format «einen Türspalt» geöffnet, um am Ende zu dem gewünschten Ergebnis zu kommen — zu einer Ausgewogenheit im Material, zu einer Balance zwischen den drei grossen Weltreligionen, den verschiedenen Kulturen.

Welchen Erkenntnisgewinn haben die Boykottaufrufe gebracht?

Thomas Kufus: Wir haben als Konsequenz des ersten Boykotts die europäische Perspektive eingenommen, als Ausweg aus dem Dilemma. Dass die Israelis Jerusalem völlig anders sehen als die Palästinenser liegt auf der Hand. Und dass dies nie zu vereinbaren ist, das haben wir so deutlich erst dort vor Ort gemerkt und durchdrungen. Der Blick aus der Ferne, von aussen, hat uns diese Erkenntnis nicht gebracht. Wenn wir hier in Deutschland kulturelle Koexistenz-Projekte aus Israel konsumieren, finden das alle «politically correct» — mit Palästinensern und Israelis zusammen. Aber die Wahrheit dort ist eine völlig andere. Auch Daniel Barenboim ist mit seinem Diwan-Orchester boykottiert worden, ebenso viele andere Kulturschaffende.

Die Palästinenser haben in Ostjerusalem nur wenig Bürgerrechte.

Die kulturelle, wissenschaftliche und wirtschaftliche Zusammenarbeit mit Israel bedeutet für engagierte Palästinenser «Normalization», eine Etablierung des Status Quo. Die Aktivisten der Boykottbewegung wählen also spezielle Projekte aus, die sie mit Sanktionen belegen. Wir mussten erkennen, dass dies eines der wenigen Mittel ist, das sie überhaupt haben. Die Palästinenser haben in Ostjerusalem keine Stadtverwaltung und damit nur wenig Bürgerrechte. Unsere Erkenntnis, die Folge aus dem intensiven Prozess der Vorbereitung und der damit verbundenen Konflikte war: Wir machen als Europäer ein Projekt finanziert von europäischen Fernsehanstalten und Förderungen für ein Europäisches Publikum. Mit einer paritätischen Aufteilung des Projekts für Israel, Palästina und Europa bezüglich Organisation, Teams und Themen sowie Protagonisten.

Beurteilen Sie das Projekt mit grösserem zeitlichen Abstand anders?

Volker Heise: Nein, ich beurteile das Projekt und die Lage heute nicht anders. Die letzten Monate – der Krieg um Gaza, die Terroranschläge, die Attentate auf beiden Seiten – haben unserer Einschätzung ja eher Recht gegeben. Ein Land, zwei Gesellschaften, kaum Berührungspunkte und kaum Mächte, die auf Einigung zustreben. Ein permanenter Kriegszustand, der mal mehr und mal weniger heiss ist. Wahrscheinlich ist es durch die Verschärfung der Lage im Moment noch weniger möglich, einen unabhängigen Blick auf die Stadt Jerusalem zu werfen.

Wie wurde die Ausstrahlung von «24h Jerusalem» auf israelischer und auf palästinensischer Seite aufgenommen? Welche Reaktionen gab es in Europa?

Volker Heise: «24h Jerusalem» konnte bisher weder in Israel noch in den palästinensischen Gebieten gezeigt werden. Ein Versuch, alle 24 Stunden in Jerusalem zu zeigen, ist an einem erneuten Boykott und erneuten Drohungen gescheitert. Bei privaten Aufführungen – wo aber nur ausschnittweise das Programm gezeigt werden konnte – haben sich die Israelis für die israelischen Protagonisten interessiert und die Palästinenser für die palästinensischen Protagonisten. Die andere Seite wird ausgeblendet, vor allem wenn es um die Wunden auf der anderen Seite geht. In Europa war das Echo bisher sehr gut, die Zuschauer haben es geschätzt, den Konflikt und die Stadt in diesem Konflikt bis in feinste Verästelungen wahrnehmen zu können und zu sehen, wir verstrickt die Lage in Jerusalem ist.

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