Wir Medienschaffenden in der Türkei führen Interviews und Hintergrundgespräche schon seit einigen Monaten nicht mehr in öffentlichen Räumen. Denn: Die Behörden hören mit und schnüffeln uns nach. Kürzlich hat mich der Besitzer eines Cafés informiert, dass bei ihm auch der Geheimdienst immer wieder mal zu Gast ist und sich über die Kundschaft erkundigt. Wenig erstaunlich, dass es deshalb immer schwieriger wird, Protagonisten zu finden, die sich noch trauen, sich vor ausländischen Kameras zu äussern.
Seit dem gescheiterten Putsch im Juli 2016 weiss niemand mehr, wo die rote Linie verläuft. Es herrscht grosse Verunsicherung darüber, was man eigentlich noch sagen oder schreiben kann, ohne Gefahr zu laufen, hinter Gittern zu landen. Denn mit dem nach dem Putschversuch verhängten Ausnahmezustand haben Polizei und Justizbehörden praktisch uneingeschränkte Machtbefugnisse erhalten.
Protagonisten sitzen in Haft
Von diesen neuen Befugnissen wird reichlich Gebrauch gemacht. Zwei der Interviewpartner im «DOK»-Film sind heute im Gefängnis: Der Co-Vorsitzende der oppositionellen Demokratischen Partei der Völker (HDP), Selahattin Demirtas, und Kadri Gürsel, Journalist der letzten oppositionellen Zeitung «Cumhuriyet». Gürsel sitzt seit viereinhalb Monaten in Haft und hat keine Ahnung, wann sein Prozess beginnt. Der Kurdenführer Demirtas wurde am 4. November 2016 festgenommen und offenbar gefoltert. Die Staatsanwaltschaft fordert nun bis zu 142 Jahre Gefängnis wegen Verbindungen zur verbotenen Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) und «Terror-Propaganda».
Auch der führende liberale Journalist Hasan Cemal, der im «DOK»- Film zu Wort kommt, wurde kürzlich wegen Verbreitung von Terrorpropaganda auf Bewährung verurteilt. Er hatte einen Bericht über einen PKK-Führer verfasst. Dafür forderte der Staatsanwalt ursprünglich neun Jahre Haft. Anfang März erhielt er zudem eine bedingte Gefängnisstrafe wegen Präsidentenbeleidigung. Ein weiterer Terrorpropaganda-Prozess steht ihm bevor.
Selbst die Festnahme von Medienschaffenden mit ausländischen Pässen ist nicht mehr tabu, wie etwa jene des deutsch-türkischen Doppelbürgers und «Welt»-Korrespondenten Deniz Yücel, der zur Zeit in Isolationshaft sitzt. Er wird unter anderem beschuldigt, ein Spion zu sein und Terrorpropaganda verbreitet zu haben. Solches verunsichert. Doch das ist gewollt, denn es diszipliniert – Kritiker, Gegner, die Medien aber auch das gemeine Volk.
Besonders frappant ist das Auftreten der Repräsentanten des Machtapparates im Südosten der Türkei. Die Kurdenmetropole Diyarbakir gleicht einer belagerten Stadt. Die gesamte gewählte Stadtregierung ist in Haft. Auch in der multikulturellen Stadt Mardin wurde die Stadtregierung durch Zwangsverwalter ersetzt. Die Herrscher zeigen sich offensiv, wie kürzlich im Garten eines assyrischen Klosters, in dem schwer bewaffnete Sicherheitskräfte herumlungerten, rauchend und laut zotend, während im Kirchenschiff die christlichen Gläubigen ihre Messe feierten.
Niemand traut sich laut 'Nein' zu sagen
Im Moment steigt die Fieberkurve in der Türkei weiter an, denn am 16. April 2017 wird über eine Verfassungsänderung abgestimmt, die Präsident Erdogan noch mehr Macht einräumen soll. Während die Ja-Kampagne für ein Präsidialsystem auch im Ausland für Schlagzeilen und vor allem für diplomatische Verstimmung sorgt, sind die Nein-Stimmen kaum zu hören. Kein Wunder: Die Regierung Erdogan hat die Gegner der Vorlage als Landesverräter diffamiert. Zudem sind mehrere hundert Oppositionspolitiker im Gefängnis – vor allem Repräsentanten der pro-kurdischen HDP.
Von einem fairen Abstimmungskampf kann kaum die Rede sein. Viele wagen zudem kaum, öffentlich zu ihrer Haltung zu stehen. Verlässliche Prognosen sind darum kaum möglich. Viele Beobachter gehen aber von einem sehr knappen Resultat aus.