Eritrea – das klingt nach Hunger, Armut und Rückständigkeit. Und natürlich wundert man sich, warum ausgerechnet aus Eritrea überdurchschnittlich viele Asylbewerber in die Schweiz gelangen. Schon vor ein paar Jahren hatte ich einmal mit dem Honorarkonsul Toni Locher darüber gesprochen und staunte über seine Erklärungen. Obwohl der Frauenarzt ein Rebell und 68er war, verteidigte er das autoritäre Regime.
Es gibt kaum Industrie
Unterdessen sind 30’000 Eritreer in die Schweiz geflüchtet. Das Land wurde in den Medien als Afrikas Nordkorea beschrieben. Ich beschloss, mir selbst vor Ort ein Bild zu machen und Toni Locher nach Eritrea zu begleiten. Es ist klar, dass man innert einer Woche kein fundiertes Bild von einem Land gewinnt. Trotzdem war ich überrascht. Eritrea ist arm, Dreiviertel der Einwohner leben von der kargen Landwirtschaft, Industrie gibt es kaum. Aber ich konnte mich frei bewegen, ich konnte ohne Einschränkungen filmen. In jeder grösseren Stadt gibt es eine Handvoll Internetcafés, in denen vor allem Junge sich intensiv mit ihren Freunden im Ausland austauschen.
Eritrea hat keine Verfassung
In der italienisch geprägten Hauptstadt Asmara trinkt man Capuccino, die Menschen flanieren auf den Boulevards, in den Cafés laufen CNN und BBC. Wenn man es nicht wüsste, nichts erinnerte einen an eine Diktatur. Tatsache aber ist, dass Eritrea keine Verfassung hat, dass keine Wahlen stattfinden und die Gefängnisse bis vor kurzem internationalen Beobachtern verschlossen geblieben sind. Eine Woche lang kam ich deshalb immer wieder mit Toni Locher darauf zu sprechen, wie er diese Zustände verteidigt, und wo die Grenzen liegen zwischen Wahrheit und Propaganda.
Das Fazit: Eritrea ist keine Demokratie nach unseren Standards, aber viele berichtete Missstände scheinen übertrieben. Dass so viele junge Eritreer flüchten scheint weniger politische als vielmehr wirtschaftliche Gründe zu haben. Ob die jungen Eritreer sich damit einen Gefallen tun, ist fraglich. Denn über 80 Prozent leben in der Schweiz von der Sozialhilfe, eine Integration in den Arbeitsmarkt gelingt selten. Toni Locher glaubt, dass junge Männer ohne Aufgabe ihr Selbstwertgefühl verlieren.
Wenige Wochen nach meiner Rückkehr veröffentlichte der Rotpunkt Verlag das Buch «Eritrea – der zweite Blick». Die fundierten Recherchen des Eritrea-Kenners Hans-Ulrich Stauffer bestätigten meinen Eindruck. Im Kapitel «Berichterstattung: Fakten oder Vorurteile» schreibt Stauffer: «Wer in einem Artikel Eritrea als Afrikas Nordkorea bezeichnet, war wohl nie in Nordkorea und wohl auch nicht in Eritrea».