Josef Wartenweiler ist auf dem Nachhauseweg, als er von zwei jungen Männern angegriffen wird. Sie verletzen ihn mit Messerstichen, unweit von Herz und Lunge. Das hätte tödlich enden können. Die Täter erbeuten 43 Franken. Überwachungskameras filmen ihre Flucht, die Bilder werden sie später überführen.
Er habe sich etwas zum Essen kaufen wollen und kein Geld gehabt, gibt der Haupttäter, ein knapp 19-jähriger Schweizer, zu Protokoll. Er habe zudem erleben wollen, wie das so sei, jemanden zu schlagen. Das sei wie Bungee-Jumping, ein Adrenalinkick der besonderen Art.
Wochenende für Wochenende passieren solche Gewaltstraftaten. Historisch gesehen, leben wir in der Schweiz in einer beispiellos friedlichen Zeit, umso mehr macht solch sinnlose Gewalt ratlos.
Die Statistik belegt zudem: die Gewalt nimmt wieder zu. Letztes Jahr wurden schweizweit knapp 31´000 Straftaten im Bereich minder schwere Gewalt registriert. Dazu gehören Tätlichkeiten und einfache Körperverletzungen. Umgerechnet sind das fast 85 Straftaten pro Tag.
Seit 4 Jahren nehmen in der Schweiz die Tätlichkeiten wieder zu
Je später der Abend, desto höher ist das Risiko, in eine brenzlige Situation zu geraten, weiss Jan Wildhaber von der Basler Jugendpolizei. Am Wochenende sei es beinahe üblich, dass es zu Schlägereien, Messerstechereien und Überfällen komme.
Basel gilt als Hotspot und weist schweizweit die höchste Dichte an Gewaltstraftaten aus. «Es ist brutaler, und es knallt schneller», so Wildhaber.
Junge Männer sind heute schneller gewaltbereit. Das klassische Täterprofil ist jung und männlich, und kommen Alkohol oder Drogen dazu, fallen die Hemmungen. Häufig geht es um Macht und Ehre - und um Frauen.
Dabei hält sich auch ein Trend hartnäckig: auch wenn jemand bereits verletzt ist oder am Boden liegt, wird weiter zugeschlagen. Schweizweit ist die Jugendgewalt zum dritten Mal in Folge gestiegen.
In der Schweiz werden pro Tag 8 Beamte verletzt oder bedroht
Am Wochenende sind in Basel jeweils zivile Jugendpolizisten unterwegs mit dem Ziel, Beziehung und damit Verbindlichkeit zu schaffen. Es gilt als erwiesen, dass Jugendliche, die in ein Beziehungsnetz eingebettet sind, weniger zuschlagen.
In Basel zeigt das Wirkung. Auch wenn die Stadt die höchste Dichte aufweist, dank dieser Prävention nimmt sie nicht noch mehr zu, wie dies in anderen Regionen der Schweiz der Fall ist.
Doch auch die Fachleute von der Jugendpolizei sind irritiert ob der Tatsache, dass Gewalt heute fast normal ist. Ein grosser Teil müsse sicher in die Prävention investiert werden, sagt Jan Wildhaber, doch gleichzeitig auch in die Repression. Es brauche beides.
Jugendpolizistin Tosca Stucki, ergänzt: «Ich habe den Eindruck, Gewalt gehört heute dazu, der Blickwinkel hat sich verschoben – leider!» Auch dass man als Frau oder Mädchen im Ausgang betatscht oder angegriffen werde, sei heute leider beinahe normal.
59 Prozent der Frauen haben schon einmal eine sexuelle Belästigung erlebt.
Für junge Frauen wird der öffentliche Raum zunehmend gefährlicher. Neuste Zahlen vom Forschungsinstitut GfS Bern decken das Ausmass auf: Mehr als die Hälfte aller jungen Frauen in der Schweiz hat eine sexuelle Belästigung erlebt und jede fünfte Frau einen sexuellen Übergriff. Aber nur knapp 10 Prozent der sexuellen Übergriffe werden angezeigt.
Anna feiert ihren Geburtstag und macht sich um drei Uhr morgens alleine auf den Heimweg. Auf der Hauptstrasse in Dübendorf merkt sie, dass sie verfolgt wird von einem jungen Mann. Sie flüchtet und sucht Schutz in einem Unterstand bei einer Bushaltestelle. «Da hat er mich gepackt und brutal verprügelt», erzählt die 27-Jährige.
Er schreit sie an, beschimpft sie und versucht, sie auch sexuell zu missbrauchen. Ein Nachbar hört ihre Schreie und verhindert noch schlimmeres. Den Täter, ein 30-jähriger Schweizer, sieht sie vor Gericht wieder. Er wird zu einer bedingten Gefängnisstrafe verurteilt, zugunsten einer ambulanten Therapie. Auf ihre Frage, warum er das gemacht habe, hat sie nie eine Antwort bekommen.
Im Jahr 2000 war die Jugendgewalt am höchsten und gelangte ins öffentliche Bewusstsein. Es herrschte ein gesellschaftlicher Konsens, dass diese Gewalt nicht toleriert wird. In den folgenden Jahren ging die Gewalt zurück, auch weil sich die Jungen mehr im Netz statt auf der Strasse trafen.
Nun nimmt die Gewalt wieder zu. Warum, kann niemand schlüssig erklären. Laut Fachleuten könnte es damit zu tun haben, dass die Gewalt aus dem öffentlichen Bewusstsein verdrängt und die in den 2000er Jahren ausgebaute Präventionsarbeit mancherorts zu sehr vernachlässigt wurde.