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Integrative Schule Eine Schule für alle – schaffen wir das?

Primarlehrerinnen und Primarlehrer in Kleinbasel sind am Anschlag. Sie befürworten die integrative Schule, können aber nicht mehr jedem Kind gerecht werden.

Primarlehrerin ist ihr Traumberuf – eigentlich. Seit über 20 Jahren unterrichtet Sandra Maître, doch nun kommt sie an ihre Grenzen. Zwischen ihren 18 Schülerinnen und Schülern gibt es enorme Unterschiede.

Die heterogene Klassenzusammensetzung, die Spannweite von lernschwachen zu leistungsstarken Kindern sowie die einzelnen Bedürfnisse und Sonderprogramme verlangen Sandra Maître viel ab.

Praktisch alle Schülerinnen und Schüler in ihrer Klasse brauchen eine spezielle Förderung. Die Primarlehrerin fordert Unterstützung durch die Schulleitung. Sie könne den Schulalltag nicht mehr alleine stemmen.

«Hilflos, kraftlos und man denkt, wie soll das gehen?»

2011 gibt es einen Systemwechsel in der Schweizer Volksschule: Möglichst alle Kinder sollen die obligatorische Schule besuchen und nicht in Kleinklassen oder Sonderschulen unterrichtet werden. Auch Kinder mit Beeinträchtigungen bleiben – wann immer möglich – in der Regelschule.

Je nach Diagnose oder Abklärung erhalten die Kinder Zusatzstunden. Dies soll den Unterricht für die Klassenlehrerinnen und -lehrer erleichtern. Zu den Sonderprogrammen gehören etwa Heilpädagogik, Logopädie, Psychomotorik oder Begabtenförderung.

Nirgends wurde die integrative Schule so strikt eingeführt wie in Basel-Stadt: Der Kanton nimmt eine Vorreiterrolle ein. So hat man dort die Kleinklassen vollständig abgeschafft. Seit Monaten läuft nun die Diskussion um das Basler Schulsystem heiss: Lehrerinnen und Lehrer möchten die integrative Schule reformieren und haben die «Förderklassen-Initiative» eingereicht.

Kleinbasler Schule als Schmelztiegel

Über die integrative Schule wird seit ihrer Einführung 2011 viel debattiert. Nicht alle Kantone haben das System so umfassend eingeführt wie der Kanton Basel-Stadt. Besonders anschaulich zeigen sich die Auswirkungen im Stadtteil Kleinbasel.

Das Thomas-Platter – und das Wettstein-Schulhaus
Legende: Das Thomas-Platter – und das Wettstein-Schulhaus Hier treffen bildungsnahe auf bildungsferne Kinder. SRF

Schmelztiegel sind hier die Schulhäuser Thomas Platter und Wettstein: Kinder von wohlhabenden Akademikern, Kinder von Flüchtlingen und der Nachwuchs von gutbürgerlichen Familien treffen aufeinander – bildungsnahe und bildungsferne Kinder sitzen im selben Schulzimmer.

Die Lehrerschaft wehrt sich

Bereits im letzten Jahr regte sich Widerstand unter den Lehrpersonen. Im August 2022 reichten sie mit 3800 Unterschriften die «Förderklassen-Initiative» ein. Die Lehrerinnen und Lehrer fordern mehr separativen Unterricht.

Die Kinder sind weniger belastbar und weniger selbstständig.
Autor: Markus Harzenmoser Lehrer

Eines der Mitglieder des Initiativkomitees ist der Kleinbasler Primarlehrer Markus Harzenmoser. Er bringt langjährige Erfahrung mit: Seit fast 40 Jahren unterrichtet er.

Der Lehrer sorgt sich um die Entwicklung an der Schule: «Die Kinder sind weniger belastbar und weniger selbstständig.» Für ihn sind Förderklassen vor allem für «psychisch vernarbte» Kinder sinnvoll.

Basler «Förderklassen-Initiative»

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Die Basler «Förderklassen-Initiative» will neben der Regelklasse wieder heilpädagogisch geführte Förderklassen einführen. Diese sollen Schülerinnen und Schüler besuchen, die kleinere Lerngruppen benötigen, um sich entfalten zu können, oder die sich wegen ihres auffälligen Verhaltens nicht in eine Regelklasse integrieren lassen.

Der Regierungsrat Kanton Basel-Stadt will nun mit Massnahmen die integrative Schule verbessern. Er hält am System fest, will aber unter anderem Förderklassen und Fördergruppen einführen. Die politische Debatte läuft. 

Harzenmoser schlägt deshalb vor: Temporär sollen sich die schwierigen Kinder in einer kleineren Klasse erholen und danach wieder zur Regelklasse stossen. Dies würde sowohl die Lehrerschaft als auch die Kinder entlasten, glaubt der Lehrer.

Individuelles Programm – administrativer Aufwand

Sandra Maîtres Hilferuf nach mehr Ressourcen kommt an. Die Schulleitung stellt ihr Paula Pfau zur Seite. Diese schliesst zurzeit ihre pädagogische Ausbildung ab. Die zwei Frauen versuchen alles, um Ruhe in ihr Klassenzimmer zu bringen.

Paula Pfau und ein Schüler
Legende: Paula Pfau unterstützt Sandra Maître. SRF

Jedes Kind arbeitet hier mit eigenem Lernziel und besucht, wenn nötig, individuelle Fördermassnahmen. Laut den Lehrerinnen hat der administrative Aufwand stark zugenommen, ausserschulische Sitzungen, Gespräche und Elternarbeit belasten ihr Pensum. 

Unterricht im Wald

Sandra Maître und Paula Pfau machen sich viele Gedanken darüber, wie sie ihre Schülerinnen und Schüler besser unterstützen können. Sie stellen die Sitzordnung um, schicken Kinder am Morgen in die Meditation, installieren Sicht- und Hörschutz und organisieren eine Schulwoche im Wald.

Besonders der Unterricht im Grünen wirke sich positiv auf die Kinder aus, resümieren die Lehrerinnen. Weil sie sich austoben könnten, sei auf einmal mehr möglich als im engen Klassenzimmer.

Aufs Unerträgliche zugespitzt

Im Schulhaus Wettstein kämpft Viertklasslehrerin Corina Büsch mit den gleichen Problemen wie ihre Kolleginnen. Unter den Lehrpersonen tauscht man sich regelmässig aus. Corina Büsch leidet unter der unerträglichen Situation in ihrer Klasse.

Ein Beispiel: Die Wandtafel im Klassenzimmer ist mit übelsten Beschimpfungen beschmiert – adressiert an die Lehrerinnen. Auch sie fühlt sich im Stich gelassen.

Corina Büsch wünscht sich einen echten Dialog bezüglich des integrativen Schulmodells: Für sie bleibt das System eine Knacknuss. Sandra Maître sieht die Lösung bei mehr Ressourcen und fordert für schwierige Klassen eine Doppelbesetzung. Mit Erfolg: Die Schule erhöht das Pensum von Paula Pfau für das nächste Jahr.

Politik diskutiert

Auch der Regierungsrat Basel-Stadt hat mittlerweile reagiert und will bis 2024/2025 neue Massnahmen einführen, etwa Förderinseln oder Fördergruppen. Das Erziehungsdepartement möchte, dass der Weg zurück in die Regelklasse für alle Kinder offen bleibt.

Interview mit Conradin Cramer, Erziehungsdepartement Basel-Stadt

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SRF: Die Lehrpersonen sind am Anschlag. Was sagen Sie dazu, wenn Sie hören, dass die Lehrerinnen und Lehrer nicht mehr allen Kindern gerecht werden können?

Conradin Cramer: Das System der integrativen Schule in Basel-Stadt ist tatsächlich an seine Grenzen gekommen. In den letzten Jahren haben wir eine enorme Zunahme gehabt von Kindern und Jugendlichen, die spezielle Unterstützung brauchen. Deshalb reagieren wir jetzt. Wir erarbeiteten ein Massnahmenpaket, das wir der Politik vorstellen, um die integrative Schule zu stärken und den Unterricht zu erleichtern.

Welche Massnahmen werden konkret umgesetzt?

Wir diskutieren über Lerninseln, eine Möglichkeit, damit man Schülerinnen und Schüler, die den Unterricht stören, unkompliziert für eine bestimmte Zeit aus der Klasse nehmen kann. Dies soll die Situation beruhigen. Wir reden auch über spezielle Fördergruppen und Förderklassen für Kinder, die Mühe haben, einem normalen Unterricht zu folgen.

Hat der Kanton die Hilferufe der Lehrpersonen zu wenig ernst genommen?

Wir haben bei der Entwicklung der Massnahmen sehr gut zugehört. Es ist wichtig, dass man die Veränderungen des Systems nicht am Schreibtisch ausarbeitet, sondern mit den Menschen, die den Alltag kennen. Das war mein persönliches Ziel: Zuerst zuhören und dann Massnahmen ausarbeiten. Ich hoffe, dass dies gelungen ist.

Fest steht: Alle Beteiligten wollen nur das Beste für die Kinder – aber wie dies konkret aussehen soll, da sind sich Behörden und Lehrpersonen nicht einig. Nun liegt der Ball bei der Politik.

SRF 2, 30.8.2023, 21:00 Uhr

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