Die Abwärtsspirale in Ilias Schoris Leben begann zu drehen, als er 13 war: Er erlebte zu Hause Gewalt und Konflikte. Seine Eltern liessen sich scheiden, und Ilias kam als einziges der sechs Kinder zum Vater. Dieser kümmerte sich jedoch kaum um seinen zweitältesten Sohn.
Schori fing an zu kiffen, geriet an die falschen Freunde. Um sich seinen Cannabiskonsum zu finanzieren, bestahl er seine Eltern und seine Dealer. Nach und nach wurde er skrupelloser.
In der Schule war Ilias Schori frech, schlief auf der Schulbank ein, suchte Streit mit anderen Schülerinnen und Schülern. Er kam in ein erstes «Timeout» auf einem Bauernhof und danach in eine Kleinklasse. Trotzdem blieb er rebellisch: In der ersten Oberstufe wurde er aus der Schule ausgeschlossen.
Die Polizei hat mich frühmorgens in Handschellen in ein Heim gebracht.
Traumatisch für den heute 30-Jährigen war auch die Einweisung in die erste geschlossene Institution: «Die Polizei hat mich frühmorgens in Handschellen in ein Heim gebracht, obwohl ich bis zu diesem Zeitpunkt noch keine Delikte verübt hatte», erzählt er.
Diese Erfahrung bewirkte, dass der 13-jährige Schori jegliches Vertrauen in Erwachsene verlor. Kleinste Zurechtweisungen im Heim lösten bei ihm heftige Wutanfälle aus. Er demolierte sein Zimmer und wurde wiederholt in Isolationszimmer eingesperrt.
Beratungsresistenter Jugendlicher
In über 20 Pflegefamilien, offenen und geschlossenen Institutionen und Jugendgefängnissen war Ilias Schori bis zu seinem 18. Lebensjahr untergebracht. Doch alle Psychologinnen und Sozialpädagogen schafften es nicht, den rebellierenden Jugendlichen zur Besinnung zu bringen.
Im Gegenteil – Ilias Schoris Strafregisterauszug wurde immer länger: Hausfriedensbruch, Drohung, Verstoss gegen das Betäubungsmittelgesetz, Sachbeschädigung, Raub, banden- und gewerbsmässiger Diebstahl sind nur einige Delikte, für die Schori verurteilt worden war.
Balance zwischen Regulation und Repression
Psychologin Monika Egli-Alge von der Beratungsstelle «Forio» kennt Biografien wie jene von Ilias Schori zur Genüge. Es sei enorm schwierig, richtig auf Jugendliche wie ihn zu reagieren und zu entscheiden, welche Intervention angebracht sei.
Das richtige Mass zwischen Regulation und Repression zu finden, ist enorm schwierig.
Man müsse klären, ob es richtig sei, gegen den Widerstand des Jugendlichen zu kämpfen und ihn mit flankierenden Massnahmen in einer geschlossenen Abteilung zu platzieren, oder mit dem Widerstand zu gehen und ihm immer wieder Möglichkeiten anzubieten, auf den rechten Weg zurückzufinden: «Das richtige Mass zwischen Regulation und Repression zu finden, ist enorm schwierig», sagt Monika Egli-Alge.
In jedem Fall gehe es aber darum, hinter die Fassade der nach aussen aufmüpfigen, delinquierenden Jugendlichen zu sehen. Denn der eigentliche Auslöser für Fehlverhalten sei oft eine tiefe Trauer und Frustration. Für viele Jugendliche sei Aggression und Wut nämlich besser auszuhalten als Trauer.
Jugendkriminalität ist auf viele Faktoren zurückzuführen
Wenn Jugendliche kriminell werden, spielen immer mehrere Faktoren zusammen. Dies sind einerseits individuelle Gegebenheiten beim Jugendlichen selbst, bspw. mangelnde Impulskontrolle oder auch Entwicklungsstörungen wie die Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS).
Solche Besonderheiten lassen Jugendliche impulsiver handeln als unbelastete Gleichaltrige, sagt Monika Egli-Alge. Auch eine individuelle Verletzlichkeit einerseits oder Resilienz andererseits spielen eine gewichtige Rolle bei der Frage, ob Jugendliche zu Kriminellen werden.
Und: Der wichtigste Faktor überhaupt – darin sind sich Forschende einig – sei das Geschlecht: Das höchste Risiko, gegen das Gesetz zu verstossen, haben männliche Jugendliche zwischen 15 und 16 Jahren.
Auch äussere Faktoren spielen eine Rolle
Andererseits spielen äussere Faktoren wie Elternhaus, Erziehung, Schule und Freundesgruppen (Peers) sowie psychosoziale, kulturelle und ökonomische Belastungen eine Rolle. So können sich bspw. Trennungssituationen oder psychische Erkrankungen der Eltern, Armut, mangelnde Zukunftsperspektiven oder eine geringe Bindung an die Schule negativ auf die Entwicklung eines Jugendlichen auswirken und diesen – zusammen mit anderen erwähnten Faktoren – in die Kriminalität abgleiten lassen.
Ganz oben auf der Rangliste dieser Risikofaktoren stehen deutlich die mangelnde Kontrolle durch die Eltern, Gewalterfahrung in der Familie oder das Erleben von häuslicher Gewalt sowie ein delinquenter Freundeskreis oder die Zugehörigkeit zu einer Bande.
In einer 2022 veröffentlichten Studie der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften ZHAW wird festgehalten, dass «bei fast allen untersuchten Delikten (…) ein Zusammenhang zwischen dem Migrationshintergrund der Jugendlichen und der Begehung von Straftaten festgestellt» wurde.
Die Verfasser der Studie vermuten, dass sich die «Migrationserfahrung sowie die Sozialisations- und Integrationsbedingungen im Einwanderungsland manchmal ungünstig auf die Entwicklung der Betroffenen auswirken können». Sie folgern daraus, «dass der Integration dieser Jugendlichen und ihrer Familien besondere Aufmerksamkeit geschenkt werden» sollte.
24-Stunden-Gesellschaft wirkt sich ungünstig aus
Einen weiteren Risikofaktor für Jugendkriminalität sieht Jérôme Endrass, stellvertretender Amtsleiter Justizvollzug und Wiedereingliederung des Kantons Zürich, in unserer 24-Stunden-Gesellschaft: «In Nachtzügen kommen Jugendliche aus der ganzen Schweiz mit wenig Geld an die öffentlichen Hotspots in unseren Städten. Viele sind alkoholisiert und frustriert, da überrascht es wenig, dass es knallt.»
Jugendkriminalität verläuft wellenförmig. Dabei gilt, dass ein kleiner Prozentsatz an Jugendlichen für die meisten Delikte verantwortlich zeichnet: 5 Prozent der Jugendlichen begehen 76 Prozent aller berichteten Straftaten, wird in der Studie der ZHAW festgehalten.
Je früher man eine kriminelle Karriere beenden kann, desto mehr rechnet sich das auch ökonomisch.
Bei diesen Jugendlichen sieht Jerôme Endrass denn auch den grössten Hebel in der Bekämpfung von Jugendkriminalität: «Je früher man eine kriminelle Karriere beenden kann, desto mehr rechnet sich das auch ökonomisch.» Die Delinquenz eines 14-Jährigen könne den Staat in den nächsten Jahren bis zu 5 Millionen Franken kosten. Therapieprogramme für Jugendliche lohnen sich laut Endrass also auch rein rechnerisch.
Umkehr aus eigenem Antrieb
Bei Ilias Schori fruchteten diese Programme nicht: Mit 23 Jahren wurde er zum letzten Mal verurteilt und in die Justizvollzugsanstalt Pöschwies eingewiesen. In der Haft reflektierte Schori sein bisheriges Leben; die fortgeschrittene Hirnreifung unterstütze gemäss Psychologinnen und Psychologen diesen Prozess.
Nach drei Jahren wurde er entlassen und brach auf freiem Fuss mit seiner Vergangenheit: Er stellte den Kontakt zu seinen alten Freunden ein und holte sich stattdessen einen italienischen Strassenhund in sein Leben. Er fand Arbeit beim Verein «Gefangene helfen Jugendlichen» und zahlt kontinuierlich seinen Schuldenberg in der Höhe von 100'000 Franken ab.
Schori muss mit 900 Franken pro Monat über die Runden kommen. Doch er sei nie mehr in Versuchung gekommen, sein Einkommen mit Dealen oder Einbrüchen aufzubessern, sagt Schori: «Diese ständigen Delikte, dieses Leben in der Kriminalität haben mich müde gemacht.» Er wolle am Abend ohne Schuldgefühle zu Bett gehen und sich nie mehr am Elend anderer Menschen bereichern, erzählt Ilias Schori. Er wolle ein «Leben wie ein Bünzli führen und meine Freiheit geniessen».