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Konflikte im Südkaukasus Reise durch einen von Grenzen und Narben zerfurchten Landstrich

Die Strecke vom Kaspischen ans Schwarze Meer ist wie ein Minenfeld – und das teilweise im wahrsten Sinne des Wortes. Der frühere Russland-Korrespondent reist durch Aserbaidschan, Armenien und Georgien und stösst auf Stacheldraht und ungelöste Konflikte. Und überall hat Russland die Finger im Spiel.

Christof Franzen startet seine Reise in Baku, der Hauptstadt Aserbaidschans am Kaspischen Meer. Dort, an bester Strandlage, eröffnete 2021 der sogenannte Trophäenpark, der Park der erbeuteten Kriegswaffen.

2020 führten Aserbaidschan und Armenien zum zweiten Mal Krieg gegeneinander um Berg-Karabach. Dieses Territorium ist etwa so gross wie der Kanton Waadt und liegt als armenische Exklave auf dem Gebiet von Aserbaidschan.

Karte mit Christof Franzens Reiseroute
Legende: Christof Franzens Reise startet in Aserbaidschan und führt ihn durch Armenien und Georgien. SRF

Die Aserbaidschaner eroberten bei diesem Krieg Landteile zurück, die sie vor 30 Jahren verloren hatten. Vor einer Mauer im Park, die gepflastert ist mit erbeuteten armenischen Autokennzeichen, posieren die Menschen für Selfies. Aserbaidschan gehört der Sieg, und das sollen alle sehen!  

Ein kleines Mädchen steht vor einem Panzer und wird von einer Frau fotografiert.
Legende: Der Park mit erbeuteten armenischen Kriegsgeräten wird gerne von Schulen und Familien besucht. SRF

Zu den von Aserbaidschan zurückeroberten Gebieten gehört Schuscha, eine strategisch wichtige Stadt in Berg-Karabach. Christof Franzen begleitet ehemalige Bewohner des Ortes, die nach 30 Jahren zum ersten Mal wieder in ihren Heimatort fahren dürfen. Es ist ein sehr emotionaler Moment für sie. Erinnerungen kommen hoch über das Leben hier, das sie abrupt beenden mussten.

Aber Christof Franzen erlebt in Schuscha auch, wie verhärtet die Fronten sind. Es kursieren viele einseitige Schuldzuweisungen und Falschinformationen. Die langjährige Propaganda der aserbaidschanischen Staatsführung trägt Früchte.  

Bewilligungen und schwarze Listen 

Aserbaidschan und Armenien sind ehemalige Sowjetrepubliken. Die damalige Zentralmacht in Moskau hielt bereits zuvor bestehende Konflikte zwischen den beiden Völkern einerseits unter dem Deckel. Andererseits sorgten damals vom Kreml gezogene willkürliche Grenzverläufe für zusätzlichen späteren Zündstoff. 

Mit der Eigenstaatlichkeit von Aserbaidschan und Armenien nach dem Zerfall der Sowjetunion explodierte dieser Zündstoff in den zwei Kriegen um Berg-Karabach von 1992 bis 1994 und 2020. Russland profitierte davon: Es lieferte an beide Seiten Waffen und vermittelte 2020 gleichzeitig einen Waffenstillstand, den es seither mit einer etwa 2000 Mann starken sogenannten Friedenstruppe sichert.

Die historischen und politischen Verhältnisse in diesem Gebiet sind komplex. Eigentlich möchte der Journalist von Schuscha aus ins Kerngebiet von Berg-Karabach weiterreisen, das hauptsächlich von Armenierinnen und Armeniern bewohnt wird. Er will da Fussballer treffen, die für ein unabhängiges Berg-Karabach spielen, und die im Krieg gekämpft haben.

Stepanakert, der Hauptort von Berg-Karabach, liegt quasi vor seiner Nase, nur wenige Kilometer entfernt von Schuscha. Aber die Grenze ist für ihn, der alles auf offiziellem und «legalem» Weg machen will, undurchdringlich.

Die Reise zu den Fussballern mutiert zu einer Odyssee, die einen grossen Umweg über Georgien erfordert. Nach rund 1000 Kilometern steht der Journalist auf armenischer Seite am Eingangstor zu Berg-Karabach.

Aber auch hier ist Ende Gelände. Der aserbaidschanische Botschafter in Bern hatte Franzen gewarnt, von Armenien aus den Grenzübertritt nach Berg-Karabach zu versuchen. Er würde sich strafbar machen.  

Die Fussballer aber trifft Christof Franzen trotzdem. Sie reisen zu ihm statt er zu ihnen.

Wie soll ein Vater, dessen Sohn im Krieg von Aserbaidschanern getötet worden ist, deren Pass akzeptieren?
Autor: Fussballer aus Berg-Karabach

Berg-Karabach – oder Arzach, wie die Armenier das Gebiet nennen – gehört völkerrechtlich zu Aserbaidschan. Für die jungen Männer kommt eine aserbaidschanische Staatsbürgerschaft, wie Baku es für alle Bewohner Berg-Karabachs fordert, aber unter keinen Umständen infrage. «Wie soll ein Vater, dessen Sohn im Krieg von Aserbaidschanern getötet worden ist, deren Pass akzeptieren?», fragen sie.  

Das öl- und gasreiche Aserbaidschan befindet sich jedoch in einer Position der Stärke – nicht nur wegen des gewonnenen Krieges. Europäische Staatsführer pilgern zurzeit zum autokratisch regierenden Ilham Aliyev nach Baku, auf der Suche nach Alternativen zu russischen Rohstoffen.  

Die Russen als Garant für den Frieden? 

Nur wenige Wochen, nachdem das Fernsehteam von SRF wieder in der Schweiz ist, flammen die Kämpfe erneut auf. Dieses Mal sind auch Stellungen innerhalb von Armenien betroffen. Eine neue Eskalationsstufe.

Seit dem 12. Dezember blockieren zudem aserbaidschanische Kräfte den Latschin-Korridor, die einzige Strasse, die Armenien mit Berg-Karabach verbindet. Etwa 120'000 Armenierinnen und Armenier sind laut armenischen Medien ohne Versorgungsmöglichkeit eingeschlossen. Aserbaidschan dementiert dies.

Die internationale Gemeinschaft ist nicht untätig. Die EU hat 40 Beobachter geschickt und versucht weiterhin in einem Friedensvertrag zu vermitteln. Der Kreml befürwortet einen solchen ebenfalls. Die erneute Eskalation lässt aber daran zweifeln, ob seine Friedenstruppen willens oder fähig genug sind, den wackligen Waffenstillstand zu sichern. 

Sollten die russischen Friedenstruppen abziehen, fürchte ich, dass wir wieder zum Krieg zurückkehren.
Autor: Geflüchteter Schauspieler aus Schuscha

Doch in Russland, das im Westen spätestens seit dem Angriffskrieg auf die Ukraine als Paria gilt, sehen viele Armenierinnen und Armenier ihre Lebensversicherung. «Sollten die russischen Friedenstruppen abziehen, fürchte ich, dass wir wieder zum Krieg zurückkehren», sagt ein armenischer Schauspieler, der 2020 mit seiner Familie aus Schuscha fliehen musste. Christof Franzen trifft ihn in Jerewan, der Hauptstadt Armeniens.  

Russland gilt traditionell als Schutzmacht von Armenien. Aber die Russen als Garant für den Frieden? Das sieht ein anderer Armenier, der sich selbst als Revolutionär bezeichnet, ganz anders. «Hier regiert das Putin-Regime». Deshalb, so meint er, könnten die Menschen nicht in Sicherheit leben.   

Die Grossmutter steht auf der anderen Seite des Stacheldrahts 

Christof Franzen reist von Armenien aus weiter nach Georgien. Dort gibt es gleich zwei Konflikte, bei denen die Russen mitmischen – und keine Anzeichen, dass sie Hand für Frieden bieten würden.

Südossetien, ein Gebiet im Norden Georgiens, sagte sich 2008 von Georgien los. Der Kreml schickte den Separatisten damals Waffen und Soldaten und anerkannte nach deren Sieg Südossetien als eigenen Staat. Das Völkerrecht steht zwar auf Seite Georgiens, doch militärisch hatten die Georgier gegen die Russen keine Chance. 

Der Krieg riss Familien auseinander. Was das bedeutet, erfährt Christof Franzen eindringlich, als er einen jungen Mann an die offiziell als Konfliktlinie bezeichnete Grenze begleitet.

Der Georgier Malkhas kümmert sich um seine Grossmutter, die auf der anderen Seite in Südossetien lebt. Er bringt ihr Wasser und zeigt ihr seinen Sohn, ihren Urenkel. Doch der Stacheldraht zwischen ihnen verhindert, dass sie einander in den Arm nehmen können.

Sie geben nur Almosen 

Der Konflikt ist eingefroren. Nichts bewegt sich, kein Vor, kein Zurück. Das Gleiche gilt für Abchasien, ganz im Westen Georgiens. Diese Provinz hatte sich bereits kurz nach dem Zerfall der Sowjetunion in einem blutigen Bürgerkrieg von Georgien abgespalten.

Abchasien, Südossetien, Luhansk und Donezk – das ist Armut!
Autor: Geflüchtete Reiseleiterin aus Abchasien

Sie hängt wie Südossetien sowohl wirtschaftlich wie politisch am Tropf von Russland. «Sie leben von Subventionen, so eine Art Zauberland, man gibt ihnen nur Almosen,» sagt eine aus Abchasien geflüchtete Reiseleiterin, die Christof Franzen zufällig trifft.

Jetzt würden sie das Gleiche in der Ostukraine machen: «Abchasien, Südossetien, Luhansk und Donezk – das ist Armut!» Die Frau ist nicht die Einzige, die Parallelen zum Krieg in der Ukraine zieht. Diese Konflikte sind schlecht für die Menschen, aber gut für den Kreml, der so die Instabilität und Unsicherheit aufrechterhält.

Christof Franzens Ziel ist das Schwarze Meer. Er hat sich Chancen erhofft, seine Küsten in Abchasien zu erkunden und wenigstens in dieses Gebiet einreisen zu dürfen. Aber auch diese Hoffnung zerschlägt sich, die Reise endet an einem der grössten Staudämme der Welt, dessen See auf georgischer und dessen Turbinen auf abchasischer Seite liegen.

Franzen steht an einer weiteren undurchdringlichen Grenze mitten in Europa. Der Krieg in der Ukraine hat die Machtverhältnisse im Südkaukasus nicht grundsätzlich verändert. Aber der lange Arm Russlands, seine geopolitischen Interessen und die alten Abhängigkeiten treten jetzt wieder deutlicher zum Vorschein. 

SRF 1, 15.12.2022, 20:05 Uhr

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