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Krieg in der Ukraine Droht der Schweiz eine konkrete Gefahr aus Russland?

Russlands Krieg gegen die Ukraine hat die sicherheitspolitische Lage in Europa fundamental verändert – und wirft auch für die Schweiz heikle Fragen auf: Droht auch uns eine konkrete Gefahr? «Heute kann nichts mehr ausgeschlossen werden», sagt der Vize-Chef der Schweizer Armee.

Wie akut ist die Gefahr, die von Russland ausgeht? Klar ist: Das Land rüstet massiv auf. Über sechs Prozent des russischen Bruttoinlandsprodukts – umgerechnet mehr als 110 Milliarden Franken – fliessen inzwischen in den Militärhaushalt.

Westliche Geheimdienste warnen

Ein Teil der Ausgaben ist als «geheim» deklariert, die tatsächlichen Summen könnten deutlich höher liegen. Westliche Geheimdienste warnen: Russland produziere nicht nur für den laufenden Krieg in der Ukraine, sondern auch für mögliche künftige Konflikte mit der Nato.

Ein begrenzter Angriff auf ein Nato-Land, um die Bündnissolidarität (Artikel 5) zu testen, gilt in Militärkreisen als denkbares Szenario. Präsident Wladimir Putin weist solche Spekulationen als «Unsinn» zurück – doch die Zweifel im Westen wachsen.

Was ist die Bündnissolidarität?

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Die Bündnissolidarität nach Artikel 5 des Nato-Vertrags bedeutet: Wird ein Mitgliedsstaat militärisch angegriffen, werten das alle anderen Nato-Staaten als Angriff auf sich selbst. Sie verpflichten sich, Beistand zu leisten – politisch, logistisch oder militärisch. Jeder Staat entscheidet dabei selbst über Art und Umfang der Hilfe. Ziel ist es, potenzielle Angreifer abzuschrecken und die Sicherheit aller Mitglieder zu garantieren.

Artikel 5 wurde bisher nur einmal aktiviert: nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 in den USA. Die Klausel bildet das sicherheitspolitische Rückgrat der Nato.

Recherchen mit Risiko: Journalismus in Russland

Wer sich journalistisch mit Russlands Kriegswirtschaft befasst, lebt gefährlich. Der Kreml setzt gezielt Exempel: 2023 wurde der US-Journalist Evan Gershkovich bei Recherchen im Ural verhaftet – und später wegen angeblicher Spionage verurteilt.

Erst im Sommer 2024 kam er im Rahmen eines Gefangenenaustauschs frei. Im Oktober wurde der französische Analyst Laurent Vinatier, tätig für eine Schweizer NGO, zu drei Jahren Straflager verurteilt – angeblich wegen unerlaubter Informationsbeschaffung.

Der Westen als Feindbild

In Russland dominiere eine Wagenburg-Mentalität, also ein skeptisches Verhalten gegenüber dem Fremden. Die Staatspropaganda zeichnet das Bild eines Landes, das sich gegen den «kollektiven Westen» verteidigen müsse.

Es werden Parallelen gezogen zum Kampf gegen Hitler-Deutschland im Zweiten Weltkrieg. Besonders junge Menschen werden auf diese Linie eingeschworen. Die Tatsache, dass Russland selbst einen Angriffskrieg führt, wird in der offiziellen Erzählung ausgeblendet.

Auch die Schweiz wird kritisch gesehen. Laut dem russischen Aussenministerium gilt sie unter anderem wegen ihrer Beteiligung an den EU-Sanktionen nicht mehr als neutraler Akteur.

Droht der Schweiz eine konkrete Gefahr?

«Ob die Schweiz militärisch direkt von Russland bedroht ist, lässt sich schwer sagen», erklärt Korpskommandant Hans-Peter Walser, Vizechef der Armee. «Aber wir wurden in den letzten Jahren mehrfach überrascht – deshalb kann heute nichts mehr ausgeschlossen werden.»

Die Bedrohung verlaufe zunehmend im sogenannten hybriden Raum: durch Cyberattacken, Sabotage und Desinformation. Laut Walser zielt Russland darauf ab, Europa von innen heraus zu destabilisieren.

Auch Milizoberst und NZZ-Journalist Georg Häsler warnt: Die Schweiz sei angreifbar, etwa durch moderne Langstreckenwaffen. «Wir haben keine effektive Abwehr gegen Raketen oder Lenkwaffen. Unsere Stromproduktion, Verkehrsknotenpunkte und Rechenzentren sind potenzielle Ziele.»

Nato – eine Option für die Schweiz?

Die Schweiz ist das einzige Land in Europa, das keiner militärischen Beistandspflicht unterliegt. Das wirft sicherheitspolitische Fragen auf. SP-Ständerätin Franziska Roth plädiert für eine engere Anbindung an EU und Nato. «Wer glaubt, die Schweiz könne sich im Ernstfall allein schützen, irrt. Der Nato-Schutzring um die Schweiz, der Speckgürtel, wie man ihn nennt, ist nicht mehr selbstverständlich.»

Dem widerspricht der Verein Pro Schweiz vehement. Er fordert in einer Initiative zusammen mit anderen eine «immerwährende Neutralität» und lehnt Sanktionen gegen kriegführende Staaten grundsätzlich ab – es sei denn, sie erfolgen durch den UNO-Sicherheitsrat, in dem Russland ein Vetorecht besitzt. Mitinitiator Stephan Rietiker fordert den Aufbau einer eigenständigen Armee – losgelöst von Nato-Strukturen.

Was braucht die Schweiz zur Verteidigung?

Die sicherheitspolitische Debatte polarisiert. Während Roth auf Cyberabwehr, Informationssicherheit und Schutz vor Drohnen setzt, fordert die Offiziersgesellschaft der Panzertruppen massive Investitionen in klassische Wehrtechnik.

In einem Positionspapier verlangt sie ein Armeebudget von 100 Milliarden Franken – inklusive neuer Panzer. Derzeit plant der Bund, die Verteidigungsausgaben bis 2032 schrittweise auf 10 Milliarden Franken jährlich zu erhöhen.

Verteidigung – eine Frage des politischen Willens

Wie ernst die Schweiz die potenzielle Bedrohung durch Russland wirklich einschätzt, wird sich an den kommenden Budgetentscheiden zeigen. Denn Aufrüstung kostet – und ist ein politischer Gradmesser.

In einer Welt, in der geopolitische Gewissheiten bröckeln, steht auch die Schweiz vor einer grundlegenden sicherheitspolitischen Neuvermessung.

SRF 1, Reporter, 25.6.2025, 21:05 Uhr

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