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Leben mit Übergewicht Abnehmen ist ein Marathon

Zwölf Prozent der Schweizer und Schweizerinnen haben Adipositas. Ein Magenbypass kann helfen – so auch Alexandra Baumann. Das ist ihr Weg zu einem besseren Körpergefühl.

«Wenn man mir vor vier Jahren gesagt hätte, dass ich einmal einen Klettersteig machen würde – ich hätte es für einen schlechten Scherz gehalten!», sagt Alexandra Baumann. Die 43-jährige Kommunikationsfachfrau wog damals 140 Kilogramm bei einer Grösse von 1.60 Meter. Sie litt an gewichtsbedingter Diabetes Typ 2, schon Treppensteigen stellte eine Herausforderung dar.

Beim Spielen mit dem Gottimeitli kam für Alexandra Baumann der Wendepunkt. «Ich konnte nicht mehr aufstehen. Da wusste ich: so kann ich nicht weitermachen.» Alexandra Baumann entschied sich für eine Magen-Bypass-Operation.

Magenbypass – Kein einfacher Eingriff

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Interview mit Dr. Philippe Beissner, Facharzt FMH für Innere Medizin, Diabetes Adipositas Zentrum Zürich DAZZ

SRF DOK: Ist ein gesundes Leben auch mit Übergewicht möglich?
Philippe Beissner: Ja – abhängig vom Ausmass. Ab einer gewissen Grenze macht Übergewicht den Körper krank. Aber die Begleiterkrankungen zeigen sich nicht bei allen gleich. Wer zwar einen höheren BMI hat, aber aktiv ist und keine Begleiterkrankungen aufweist, für den gibt es medizinisch gesehen keinen zwingenden Grund, um abzunehmen.

Kann eine bleibende Gewichtsreduktion auch ohne operativen Eingriff erzielt werden?
Aus unserer Erfahrung zunehmend besser. Bei mittlerem Übergewicht, etwa bei einem BMI zwischen 30 und 35, können mit Lebensstil-Umstellung und Medikamenten inzwischen gute Erfolge erzielt werden. Aber: die Medikamente müssen für den Rest des Lebens genommen werden. Die Akzeptanz ist nicht immer vorhanden.

Für wen kommt ein Magenbypass infrage?
Ab einem Body-Mass-Index (BMI) von 35 ist er zugelassen. Eine Operation ist dann sinnvoll, wenn das Übergewicht die Lebensqualität und Gesundheit von Menschen deutlich einschränkt. Damit Krankenkassen den Eingriff übernehmen, muss ein zweijähriger Therapieversuch auf nichtoperativem Weg nachgewiesen werden. Der Magenbypass ist, zusammen mit dem Schlauchmagen, der häufigste operative Eingriff bei starkem Übergewicht. Der Magen wird verkleinert und der Dünndarm umgeleitet.

Was gilt es zu beachten?
Ein Bypass ist ein ernsthafter Eingriff. Wichtig ist die seriöse Abklärung bei einem zertifizierten Zentrum. Diese finden sich mittlerweile überall in der Schweiz.

Welche Hoffnung darf man sich nicht machen?
Der grösste Fehler wäre zu denken «Entweder ich stelle die Ernährung um oder ich lasse mich operieren». Ernährungsumstellung und Bewegung braucht es auch bei einer Operation. Die Bereitschaft dazu muss vorhanden sein.

Für wen eignet sich ein Magenbypass nicht?
Für Menschen mit Suchterkrankung, speziell Alkohol. Die Operation verstärkt die Aufnahme von Alkohol im Körper, das kann gefährliche Folgen haben.

Welche Erfolgsprognosen haben Patienten mit hohem Übergewicht wie Alexandra Baumann?
Der erwartbare Gewichtsverlust liegt bei einem BMI über 50 bei ungefähr 30 Prozent. Also im gleichen Rahmen wie bei anderen Patienten. Nur führt diese Gewichtsreduktion bei tieferem BMI häufiger zu einem für den Patienten befriedigenden Resultat. Gleichzeitig sehen wir aber gute Effekte bei der Bekämpfung von Diabetes Typ 2, was für den «Behandlungserfolg» aus medizinischer Sicht fast wichtiger ist als die reine Kilozahl.

Können Patienten irgendwann wieder «normal» essen?
Essen kann man alles. Die richtige Zusammenstellung und die Menge sind entscheidend. Nulltoleranz gibt es nur bei Süssgetränken und Alkohol. Wenn Patienten und Patientinnen nach einer Operation wieder stark zunehmen, sind der Grund oft flüssige Kalorien.

Können Menschen nach der Gewichtsreduktion mit dem Thema Übergewicht abschliessen?
Nein. Die Umstellung bei Ernährung und Bewegung muss beibehalten werden. Es bleibt eine lebenslange Verletzlichkeit, etwa auf schwierige Lebenssituationen mit Gewichtszunahme zu reagieren. Deshalb kann es für Patientinnen und Patienten wichtig sein, am «Mindset» zu arbeiten und den Prozess psychologisch zu begleiten.

Heute ist sie vierzig Kilo leichter. Und viel fitter, wie sie sagt. Baumann trainiert seit vier Jahren mit Personalcoach Steve Husistein. Ein beträchtlicher finanzieller Aufwand für sie, der sich aber lohne: «Alleine hätte ich es nie aus der Komfortzone geschafft.»

Ohne hartes Training keine Chance

Wie lernt man einen Körper schätzen, den man immer abgelehnt hat? Für Alexandra Baumann sind sportliche Herausforderungen der Weg zum besseren Körpergefühl. Sie will zum ersten Mal in ihrem Leben einen Klettersteig überwinden. «Ich will mir beweisen, dass ich das schaffe!»

Personal Coach Steve Husistein unterstützt sie. Alexandra muss genügend Kraft entwickeln, um ihr Gewicht am Fels hochzuziehen und ihre Angst vor der Höhe überwinden. Gerade der mentale Aspekt ist für Husistein wesentlich.

Auch für Musikerin Caroline Krattiger war es nicht leicht. Sie hat innerhalb eines Jahres 40 Kilo verloren. Ohne Operation, aber mit radikaler Ernährungsumstellung, einem Fitnesscoach und sehr viel Training. «Ich nehme schnell ab», sagt sie, «aber leider auch schnell wieder zu». Adipositas sei bei ihr zwar nie diagnostiziert worden, «aber mit 120 Kilo gehörte ich wohl schon in diese Kategorie».

Den Jo-Jo-Effekt kennt Alexandra Baumann zur Genüge. Kaum eine Diät, die sie nicht ausprobiert hat. Mit dem Ergebnis, dass sie letztlich schwerer wurde statt leichter. Diese Erfahrung deckt sich mit wissenschaftlichen Erkenntnissen. Crash-Diäten sind für Menschen mit Adipositas keine Lösung.

Der Stress mit dem Essen

Zum Essen haben Alexandra Baumann und Caroline Krattiger eine schwierige Beziehung. Kochen können sie beide nicht, stellen sie fest. Und geniessen? Selten, sagen beide: «Essen ist immer ein Stress.»

Menschen mit Adipositas fehlt beim Essen das «Stoppsignal». Die automatische Steuerung des Sättigungsgefühls funktioniert bei ihnen schlecht oder gar nicht. Man könne sich das vorstellen wie eine defekte Verkehrsampel, sagen Fachleute. Das Hirn signalisiert «mehr» – egal, wie viel gegessen wurde. Die Veranlagung dazu ist erblich. Mit dem Willen alleine ist dem schlecht beizukommen. Langfristig behält meist der Körper die Oberhand.

Wann bin ich übergewichtig?

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In der Schweiz ist rund die Hälfte der erwachsenen Personen übergewichtig. Zwölf Prozent leiden an Adipositas.

Übergewicht wird bestimmt durch den Body Mass Index (BMI), der durch die Weltgesundheits-Organisation WHO definiert wurde. Ein BMI-Wert zwischen 18.5 und 24 gilt als «Normalgewicht», zwischen 25 und 29 spricht man von «leichtem Übergewicht», ab BMI 30 spricht man von «Adipositas», hier beginnen die medizinischen Risiken zuzunehmen.

Den eigenen BMI berechnen? > BMI-Test


Quellen: Allianz Adipositas Schweiz, Adipositas Stiftung Schweiz, saps.ch

«Ich war schon als Kind runder als andere», erzählt Alexandra Baumann. Sie wurde gehänselt und ausgelacht. Alexandra suchte Trost im Essen. Es begann ein Teufelskreis aus Esssucht, Diäten und Scham.  «Je mehr ich mich für mein heimliches Essen und meinen Körper schämte, umso häufiger wurden die Essattacken. Heute habe ich meine Essstörung besser im Griff. Losgeworden bin ich sie aber nicht.»

Anders als Alexandra Baumann hat Caroline Krattiger nicht unter ihrem Gewicht gelitten. Mobbing etwa hat sie nie erlebt. «Auf der KKL-Bühne zählt nicht dein Aussehen, sondern ob du gut spielst oder nicht.»

Das Gewicht stagniert

Drei Jahre nach der Operation steht Alexandra Baumann an einem schwierigen Punkt. Medizinisch gesehen war die Operation ein Erfolg. Vierzig Kilo hat sie verloren, der Diabetes ist verschwunden. Bewegungsfreiheit und Lebensqualität haben sich massiv verbessert. Seit einem Jahr aber stagniert ihr Gewicht, und das ersehnte Normalgewicht hat sich nicht eingestellt. Das macht Alexandra Baumann zu schaffen.

Wer mich nicht kennt, sieht immer noch eine übergewichtige Person. Nicht den Erfolg. Damit muss ich leben.
Autor: Alexandra Baumann

Nach zwei bis drei Jahren nimmt der Effekt des Magenbypass deutlich ab, bestätigt Arzt Philippe Beissner vom Diabetes Adipositas Zentrum Zürich (DAZZ).  Zwei Drittel der Gewichtsabnahme passieren in den ersten sechs Monaten. Der Rest in weiteren sechs bis zwölf Monaten: «Das ist die ‹Honeymoon›-Phase, da geht es einfach runter. Danach wird der Stoffwechsel sparsamer, es kann sogar zu einem leichten Jo-Jo-Effekt kommen.»

Das könne für die Patientinnen und Patienten zäh werden. In seiner Erfahrung pendle sich das Gewicht oft erst nach sieben bis zehn Jahren ein.

Alexandra Baumann ist überzeugt, dass die Gründe für schweres Übergewicht oft in der Psyche zu finden sind. Diesen Knopf habe der Magenbypass nicht lösen können. «Man wird ja am Körper operiert, nicht am Kopf», sagt Baumann. Mit ihrem Körper Frieden zu schliessen, brauche Zeit. «Abnehmen ist ein Marathon. Aber ich bin auf gutem Weg!»

Tipps von Alexandra Baumann

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Alexandra Baumann sitzt auf einem Felsen und reckt siegesreich die Arme hoch.
Legende: Alexandra nach erfolgreich bezwungenem Klettersteig Alexandra Baumann

1. Eine Sportart oder eine Bewegungsart finden, die wirklich Freude macht. Das ist auf längere Sicht erfolgversprechender als die Zahl der Kalorien, die man dabei verbrennt.

2. Unterstützung suchen und professionelle Hilfe annehmen. Gemeinsam geht es besser. Beim Trainieren, aber auch beim Abfedern von Motivationstiefs. Suchen Sie sich medizinische Fachpersonen, die Sie wirklich ernst nehmen. Ein Fitness-Coach kann helfen, ein sinnvolles Trainingsprogramm zu erstellen und es langfristig durchzuhalten.

3. Nicht mit anderen vergleichen. Jeder Körper ist anders. Vergleichen beim Abnehmen ist eine Anleitung zum Unglücklichsein.

Weiterführende Informationen:


SRF 1, Reporter, 11.05.2022, 21:00 Uhr

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