Mein jetziges Leben ist kein Vergleich zu vorher. Ich spüre mich wieder.
Sandra ist 34 Jahre alt. Jahrelang konsumiert sie Alkohol und Kokain, bis sie körperlich und seelisch ein Wrack ist. In einer therapeutischen Einrichtung lernt sie Narcotics Anonymous (NA) kennen. Das ist nun sieben Monate her. Seither lebt sie abstinent von allen Drogen. Viermal pro Woche geht sie in ein Meeting. «Mein jetziges Leben ist kein Vergleich zu vorher. Ich spüre mich wieder. Ich lebe wieder.»
Die regelmässigen Meetings
Narcotics Anonymous ist eine internationale, gemeinnützige Gemeinschaft von Süchtigen, die ihr Leben ohne Drogen meistern wollen. Entstanden aus den Anonymen Alkoholikern (AA) in den USA, hat Narcotics Anonymous (NA) vor 30 Jahren in der Schweiz Fuss gefasst.
Die Meetings werden abwechselnd von einzelnen Mitgliedern geleitet. Jedes NA-Meeting läuft ritualisiert ab. Alle Süchtigen sprechen über ihre eigenen Erfahrungen mit Sucht und Genesung.
Es gibt keine Diskussionen, keine Kommentare, keine Diagnosen. Jeder spricht nur von sich. Der eine erzählt von einem tollen Tag bei der Arbeit, der andere spricht über Beziehungsstress, eine Dritte ärgert sich über ihre Ungeduld gegenüber der Tochter.
Adrian (43) ist erfolgreicher Unternehmer und Vater eines zehnjährigen Sohnes. Auf dem Tiefpunkt seiner Kokain- und Heroinsucht war sein Kind im Heim, seine Firma vor dem Ruin und das Auto beschlagnahmt. «Dass es hilft, über etwas zu sprechen, das war mir völlig fremd.» Heute besucht Adrian mindestens dreimal pro Woche ein Meeting der NA. Und sein Sohn Henry lebt wieder bei ihm.
Sucht als unheilbare Krankheit
Der Wunsch, mit Drogen aufhören zu wollen, ist die einzige Voraussetzung, um Mitglied zu werden. Mit Drogen meint Narcotics Anonymous alle Drogen. Dazu gehören auch Alkohol, Cannabis und Schlafmittel. Nikotin und Koffein sind ok.
Süchtig, so die Aussage von NA, sei man ein Leben lang. Durch abstinentes Leben könne man die Sucht aber anhalten. Ihr Programm sei kein Programm für jene, die es brauchen, sondern für jene, die es wollen.
Die Anonymität ermöglicht es den Süchtigen, sich auf Augenhöhe zu begegnen. Jene Augenhöhe, die unter Umständen fehlt, wenn sie einem Arzt oder einer Psychologin gegenüber sitzen.
Roman (55) ist seit dem 15. Februar 1995 clean. Damals wurde der Letten geräumt. Er gehört zu den ein bis zwei Prozent, die es geschafft haben, dem Drogensumpf des Platzspitz zu entkommen. Als er mit 32 Jahren NA kennenlernt, ist er IV-Rentner und beginnt eine von der Invalidenversicherung finanzierte Lehre als Schreiner.
Heute ist Roman ausgebildeter Sozialpädagoge, ist verheiratet und hat zwei Kinder. Immer noch besucht er einmal pro Woche ein NA-Meeting. «Das NA-Meeting ist für mich wie eine Insel in meiner Woche voller Stress, Arbeit und Familie. Innerhalb von zehn Minuten kann ich zur Ruhe kommen und finde zu mir selbst.»
Interview mit Suchtexperte André Seidenberg
Totale Abstinez ist bei einer Opioid-Sucht nicht nachhaltig
Der Zürcher Arzt André Seidenberg gilt als Pionier der Schweizer Drogenpolitik. Während über 30 Jahren therapierte er Drogenkranke. Unter seiner massgeblichen Mitwirkung kam es 1993 zu den ersten Versuchen von kontrollierter Heroinabgabe. Totale Abstinenz bei Opioid-Abhängigkeit hält er im Gegensatz zu NA für nicht nachhaltig.
SRF: Was sind die heutigen wissenschaftlichen Standards bei der Therapie von Süchtigen?
Andre Seidenberg: Bei einer Opioid-Abhängigkeit, wie Heroin beispielsweise, werden die Süchtigen langfristig behandelt. Meistens mit Methadon innerhalb eines kontrollierten Drogenabgabeprogramms. Es hat sich gezeigt, dass diese Art der Therapie der grossen Mehrheit der Opioidabhängigen langfristig am meisten bringt.
Bei anderen Drogen wie Tabak, Alkohol, Kokain etc. muss jede Droge einzeln angeschaut werden. Beim Tabak muss man eine Strategie finden, wie man aufhört. Auch bei Alkohol ist eher eine Therapie Richtung Abstinenz passend.
Was halten Sie von der Selbsthilfegruppe Narcotics Anonymous, die auf Abstinenz abzielt?
Für gewisse Drogenabhängige kann eine solche Selbsthilfegruppe sicher eine Hilfe sein. Bei Opioidabhängigen ist dies aber eher nicht der Fall. Wird ein Opioidabhängiger in die Abstinenz gedrängt, befindet er sich in einer grösseren Gefahr, als wenn er dauerhaft ein Ersatzpräparat wie beispielsweise Methadon erhält.
Die Mitglieder-Zahlen von Narcotics Anonymous sind weltweit steigend. Sie sind neben den Anonymen Alkoholikern die grösste gemeinnützige Organisation. Das sind doch beeindruckende Zahlen?
Ich weiss, dass sich bei AA und NA häufig mehrfach substanzabhängige Leute treffen. Sie kriegen dann vielleicht ihr Kokainproblem oder ihr Alkoholproblem in den Griff. Aber nach ihren eigenen Kriterien sind sie in Bezug auf Opioide langfristig erfolglos.
Also sind Ihrer Meinung nach ehemals Opioidabhängige, die es mit NA geschafft haben, abstinent zu werden, krasse Einzelfälle?
Die Frage ist immer, wie lange hingeschaut wird. Es braucht eine Langzeitbeobachtung von mindestens zehn Jahren. Ich bin ein alter Doktor, ein alter Drogendoktor, das heisst, ich habe sehr lange hingeschaut. Es gibt dazu auch wissenschaftliche Untersuchungen, gerade im Raum Zürich. Darin wurde nachgewiesen, dass 95 Prozent der Opioidabhängigen nie dauerhaft aufhören können. Das muss man mal zur Kenntnis nehmen.
Der Dokfilm zum Thema: