Jährlich sterben in der Schweiz rund 500 Kinder, circa 3200 Kinder und Jugendliche leben mit einer lebenslimitierenden Erkrankung. Allerdings haben nur drei Kinderspitäler, nämlich Zürich, St. Gallen und Lausanne ein eigenes «Palliative-Care-Team», welches die jungen Patientinnen sowohl innerhalb des Spitals als auch zu Hause betreut. Noch immer sterben viele Kinder auf der Notfallstation, statt dort, wo die meisten sich am wohlsten fühlen – daheim.
Sterben vorzeitig planen
«Häufig wird das Sterben nicht frühzeitig vorausgeplant.» Eva Bergsträsser ist in der Schweiz die Palliative-Care-Pionierin für Kinder und leitende Onkologin am Zürcher Kinderspital. Sie spricht das an, was für viele ein Tabu ist: der Tod des eigenen Kindes.
In den ehrlichen Gesprächen geht es nebst der optimalen Betreuung und medizinischen Versorgung um ganz konkrete Fragen wie: Wollen wir lebensverlängernde Massnahmen für unser Kind – ja oder nein?
Wieviel erträgt mein Kind?
Marianne und Klaus Peter mussten sich mit dem Sterben ihres eigenen Kindes auseinandersetzen. Ihre Tochter Magali leidet an Rasmussen-Enzephalitis, einer schweren Autoimmunerkrankung, die das Gehirn schädigt. Im Frühling dieses Jahres erlitt die 15-Jährige einen epileptischen Anfall in der Badewanne und tauchte unter. Tagelang kämpfte das Mädchen im Spital ums Überleben.
Eva Bergsträsser begleitet die Familie. Es geht darum, gemeinsam herauszufinden, was für die Familie, allen voran Magali, am besten ist. Was will man dem eigenen Kind zumuten? Was erträgt es? Wann macht das Leben für das Kind noch Sinn?
«Auf lebensverlängernde Massnahmen, die Magali mehr schaden als nützen könnten, wollen wir verzichten», sagen die Eltern. «Doch vor allem sind wir froh, wenn wir diese Entscheidung niemals fällen müssen.»
Kämpfen bis zum Schluss
«Für uns war immer klar, so lange wir sehen, Liam möchte und kann noch kämpfen, so lange machen wir alles.» Tiffany und Thomas Wermelingers Sohn ist mit 18 Monaten an Leukämie erkrankt. Mit allen Mitteln kämpfte die Familie gegen den Krebs.
Als in der Schweiz keine der Behandlungen anschlug, flogen die Eltern mit Liam in die USA. Sie setzten all ihre Hoffnung in eine neuartige Immuntherapie. Der Krebs verschwand zwar tatsächlich, doch Liam wurde immer schwächer; er starb an den Folgen der Behandlung. «Liam hat uns die Entscheidung abgenommen», sagen die Eltern heute.
Anderthalb Jahre sind seit Liams Tod vergangen. Gemeinsam haben die Wermelingers die Stiftung «Little Big Hero» gegründet, um Kinder mit ähnlichem Schicksal zu unterstützen. «Die Arbeit», so der Vater, «gibt mir einen neuen Sinn im Leben.»
Langer Sterbeprozess
Seit gut zwei Jahren pflegen die Colaks ihre sterbenskranke Tochter daheim. Die 13-jährige Ceren leidet an Morbus Pompe, einer neuromuskulären Erkrankung. Sie kann nicht sprechen, sich nicht mehr bewegen, muss künstlich beatmet und ernährt werden. Ohne diese Massnahmen wäre Ceren längst tot. Dabei werden die Eltern nicht sich selbst überlassen. Ein Betreuungsnetz aus Palliativmedizinern und Pflegefachpersonen der Kispex Kanton Zürich gewährleistet Cerens optimale medizinische Versorgung.
Ein langer Sterbeprozess, der für die Eltern immer wieder neue Fragen aufwirft: Was hat Ceren noch vom Leben? Können wir nicht loslassen? Leidet sie? Ihre Tochter habe heute gelächelt, was zeigen würde, dass sie das Leben noch geniesst. «Ceren wird selber entscheiden, wann sie gehen will.»
Eva Bergsträsser ist Palliativmedizinerin und begleitet Familien bei diesen schweren Entscheidungen.
SRF DOK: Sie plädieren dafür, dass sich Familien rechtzeitig mit dem Sterben ihrer schwerkranken Kinder auseinandersetzen.
Eva Bergsträsser: Es geht darum, dass man langfristig vorbereiten kann. Was ist, wenn? Die Kinder können jederzeit unerwartet versterben. Wir halten schriftlich fest, welche Ziele Eltern für Kinder noch haben. Welche Behandlungsversuche will man machen? Kommen experimentelle Therapien in Frage? Soll man Wiederbelebungsmassnahmen durchführen – ja oder nein?
Für Eltern extrem schwierige Entscheidungen.
Es ist keine Punktentscheidung, es steht ein längerer Prozess dahinter. Wir begleiten die Familien sehr eng auf diesem Weg. Es ist eine gemeinsame Entscheidungsfindung, in der häufig mehrere Personen involviert sind. Das können Spezialisten sein, Pflegefachpersonen, aber auch eine Lehrperson aus einer Langzeitinstitution. Solche Vereinbarungen sind immer veränderbar. Das heisst, wenn ich heute entscheide, eine Operation zu machen, kann es sein, dass das aufgrund des Krankheitsverlaufs in zwei Monaten nicht mehr richtig ist. Dann streicht man es wieder.
Welchen Rat geben Sie betroffenen Familien mit?
Zu leben! Dass man für Lebensqualität sorgt und gute Momente schafft, gute Erinnerungen. Dass man eine Reise oder einen Familienausflug nicht wegen der Krankheit auf einen späteren Zeitpunkt verschiebt, der vielleicht gar nicht mehr kommt. Die Kinder sollen leben, und das Leben, trotz Einschränkungen, geniessen dürfen.