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Psychische Probleme Jugendliche unter Druck – Betroffene erzählen ihre Geschichten

Ihre Pubertät gleicht einer Fahrt auf der Achterbahn. Gioia, Emil und Beneon fühlen sich ungeliebt – äusserlich und innerlich nicht schön. Sie drohen am Druck, der auf ihnen lastet, zu zerbrechen. Dank psychologischer Unterstützung schaffen sie es, die dunklen Zeiten hinter sich zu lassen.

«Ich wurde gemobbt, ausgeschlossen und ausgenützt. So ziemlich alles, was schlecht ist. Ich wollte nicht mehr die Person sein, die ich war, oder gar nicht mehr sein», erzählt Gioia (19).

Porträtbild von Gioia
Legende: Während der Pandemie gleitet Gioia in eine tiefe Depression. SRF

Die Krise in der Pubertät hat ihren Anfang in der Primarschule genommen. Gioia wächst wohlbehütet auf. Doch noch bevor sie ein stabiles Selbstwertgefühl aufbauen kann, wird sie von ihren Klassenkameradinnen derart gemobbt, dass sie sich kaum wehren kann.

Covid, Krieg und Klimakrise lösen Zukunftsängste aus

Im Gymnasium wird alles noch viel schlimmer. Leistungsdruck, soziale Medien, Covid, Krieg, Klimakrise – das ist viel Druck auf ein junges Gemüt. Bei Gioia bricht die Krise während der Pandemie aus.

Ich dachte, ich würde die Zukunft gar nicht mehr erleben.
Autor: Gioia (19)

Schulunterricht via Zoom, keine Abgrenzung zwischen Schule und Freizeit und kaum unbeschwerte Ablenkung, das ist zu viel.

«Ich war isoliert zu Hause. Allein. Ich konnte meine Kolleginnen und Kollegen nicht mehr treffen, war mehr auf den sozialen Plattformen. Ich kam nicht mehr klar mit dieser Ansammlung an Negativität und Reizüberflutung. Ich bekam extreme Angst, weil ich dachte, ich würde die Zukunft gar nicht mehr erleben.»

Gioias Eltern und die jüngere Schwester versuchen, ihr beizustehen. Doch Gioia gleitet in eine tiefe Depression. Sie verlässt das Gymnasium und findet nach intensiver Suche einen Platz in einer sozialpädagogischen Einrichtung. Doch die Reise von Zürich nach Richterswil wird für die damals 17-Jährige zum täglichen Alptraum. Die Angst ist gross, während einer Panikattacke vor den Zug zu springen.

Gioia benötigt enge Begleitung und ein halbes Jahr Auszeit, um zur Ruhe und zu sich zu kommen. Um Vorstellungen zu entwickeln, welche Bedürfnisse sie hat, welchen Weg sie eigentlich einschlagen möchte. Erst dann kann sie zurück in den Alltag und die Schule wieder aufnehmen.

Mädchen trifft die Krise besonders hart 

Gioia ist kein Einzelfall. Immer mehr Jugendliche geraten in der Pubertät in eine Krise. Seit Jahren steigen die Fallzahlen unentwegt. 2021 werden erstmals mehr Jugendliche aufgrund psychischer Krisen hospitalisiert als aufgrund von Verletzungen. Mädchen sind besonders betroffen.

In den Pandemiejahren steigt die Zahl der stationären Spitalaufenthalte wegen psychischer Störungen bei den Mädchen um sechs Prozent, im Folgejahr um beispiellose 26 Prozent an. Bei den Jungen beträgt der Anstieg zwei und dann sechs Prozent.

Graphische Darstellung der Hospitalisierungen von Jugendlichen
Legende: Grafik SRF/Quelle BfS 2022

«Im Kinderbereich hat man mehr Jungs. Der Junge wird früher auffällig, beginnt Streit auf dem Pausenplatz oder im Kindergarten schon. Das Mädchen macht es eher mit sich aus und in der Pubertät bricht oft die Krise aus», sagt Sascha Bamert, Stationsleiter des neuen Kriseninterventionszentrums Life der Kinder- und Jugendpsychiatrie des Kantons Zürich.

Der Kanton hat aufgrund des alarmierenden Anstiegs jugendlicher Patienten und Patientinnen zusätzliche Gelder gesprochen, um 50 weitere Therapieplätze zu schaffen. Anfang Oktober 2022 hat die Station «Life» ihre Türen geöffnet. Wenige Wochen später sind alle Plätze besetzt. Wie sinnvoll und nachhaltig Therapie ist, zeigen die Beispiele von Emil und Beneon. SRF DOK begleitete die beiden bereits 2019. 

Therapie hilft und ist nachhaltig 

Emil (19) gerät in der Pandemie in eine schwere Essstörung, in eine Krise, die er längst hinter sich geglaubt hat. Auch er hatte in Primar- und Oberstufe mit grossen Problemen zu kämpfen, hat mehrere Klinikaufenthalte und Therapien hinter sich. Die erneute Krise trifft ihn hart.

Diesmal rutscht er in eine Essstörung: «Es war echt schlimm. Ich habe Probleme mit meinem Selbstwertgefühl. Und wenn ich das Handy öffne, sehe ich Bilder von Leuten, die mit mega vielen Filtern bearbeitet sind. Du denkst, die haben schöne Körper und siehst, die kriegen auch viele Kommentare, wie schön sie aussehen würden. Dabei sind die selbst essgestört.» 

Emil sitzt auf einem Motorrad und schaut in die Kamera
Legende: Heute ist Emil stabil und absolviert eine Lehre als Motorradmechaniker. SRF

Jugendliche sind leicht beeinflussbar. Und allzu oft leiten sie ihren Selbstwert von Äusserlichkeiten ab. Obwohl keineswegs übergewichtig, besorgt sich Emil die Informationen, wie er schnell abnehmen könnte, ganz einfach in Foren für Essstörungen im Internet und rutscht schnell in eine Krise.

Doch diesmal muss Emil glücklicherweise nicht in die Klinik. Er kann auf die Skills zurückgreifen, die er in früheren Therapien erworben hat und muss seine Ausbildung zum Motorradmechaniker nicht unterbrechen. Der Weg zurück in die Normalität ist dennoch alles andere als einfach, benötigt viel Zeit und Geduld.

Hilfsangebote

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  • Tag und Nacht bieten die Telefonnummern 147 (Jugendliche) oder 143 (Erwachsene) professionelle Hilfe an für Menschen, die in einer Notlage sind. Die Gesprächsangebote sind auch per SMS, Mail und Chat verfügbar, http://www.reden-kann-retten.ch/
  • Die Pro-Juventute-Elternberatung https://www.projuventute.ch/de/elternberatung unterstützt Bezugspersonen von Kindern und Jugendlichen rund um die Uhr unter der Telefonnummer 058 261 61 61.
  • Der zentrale Notfalldienst der KJPP (https://www.pukzh.ch/unsere-angebote/kinder-und-jugendpsychiatrie/notfall/fuer-eltern/) des Kanton Zürich steht rund um die Uhr und an 365 Tagen im Jahr, auch an Wochenenden und Feiertagen, unter der Telefonnummer 043 499 26 26 zur Verfügung (nach 17 Uhr Bandansage mit Möglichkeit zur Weiterleitung zum Dienstarzt). Die Notfallkonsultation erfolgt stets im zentralen Notfalldienst in Zürich. In anderen Kantonen helfen die Dienste von Kinder- und Jugendpsychiatrie ebenfalls weiter.

Auch die Geschichte des heute 22-jährigen Beneon zeigt, dass Schwierigkeiten in der Pubertät keineswegs ins Erwachsenenleben mitgenommen werden müssen.

Ich habe in der Therapie vieles gelernt, das ich nun im Leben umsetze.
Autor: Beneon (22)

Beneons Pubertät ist geprägt von Essstörungen, Depressionen und suizidalen Gedanken. Die Erfahrung einer intensiven ambulanten Therapie hilft ihm heute, schwierige Lebenssituationen schnell zu erkennen und entsprechend zu handeln.

Porträtbild von Beneon (22)
Legende: Beneon (22) hat in Hamburg eine zweite Heimat gefunden. SRF

«Ich habe in der Therapie vieles gelernt, was ich nun im Leben umsetze. Ich weiss, dass ich mich nicht in eine depressive Phase sinken lassen soll. Es ist einfacher, negative Gedanken sofort zu killen, als zu versinken.» So begegnet Beneon auch dem Druck, dem er in der Ausbildung zum Musicaldarsteller ausgesetzt ist. 

Beneon, Emil und Gioia zeigen viel Mut, ihre Erfahrungen der Öffentlichkeit preiszugeben. Sie tun es in der Hoffnung, anderen Jugendlichen und ihren Angehörigen aufzeigen zu können, dass es einen Weg aus der Krise gibt.

Aus den vermeintlichen Schwächen haben alle drei eine beeindruckende Stärke gewonnen. Und eine Einsicht in Höhen und Tiefen des Lebens, die viele Erwachsene erst sehr viel später erfahren.

SRF 1, 13.04.2023, 20:05 Uhr

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