Michèle Nuspel arbeitet seit drei Jahren als Lehrerin. An der Schule Pieterlen BE unterrichtet sie die erste und die zweite Klasse gemeinsam – Kinder mit ganz unterschiedlichen Stärken und Schwächen, mit ADHS oder Lernerwerbsstörungen. Michèle arbeitet Vollzeit. Da sie die Pädagogische Hochschule nicht besucht hat, erhält sie einen Lohnabzug von 20 Prozent.
«Ich arbeite einen Tag pro Woche gratis», sagt sie. Das finde sie unfair. Sie könne gut verstehen, dass es für Lehrpersonen ohne Diplom einen Lohnabzug gebe, aber dieser könnte auch bei zehn Prozent liegen. «Wir sind gut genug, um uns alleine vor eine Klasse zu stellen, aber wir dürfen nicht den vollen Lohn erhalten.» Da Michèle die Pädagogische Hochschule nicht besucht hat, muss sie andere Wege finden, um ihren Unterricht zu gestalten.
Ich habe durch die Kinder gelernt, Freude an Dingen zu haben, die ich vorher nicht hatte.
Über Blogs von anderen Lehrpersonen und Social Media findet sie Ideen, die sie in ihrem Unterricht umsetzt. Es sei wichtig, sich dafür zu interessieren, wie andere die Lektionen gestalten, so Michèle. Und sie findet, man dürfe keine Angst davor haben, dass eine Idee nicht gut ist, nur weil sie aus dem Internet stammt. «Man kann die Ideen ja ausprobieren. Und wenn sie nicht gut funktionieren, lässt man sie halt wieder weg.»
Ein Traum geht in Erfüllung
Eigentlich wollte Michèle immer Lehrerin werden, schlug nach der Schule aber erst einen anderen Weg ein. Sie fing zwei FH-Studiengänge an – Wirtschaftspsychologie und Kommunikation – und musste erkennen, dass es ihr nicht gut gefällt. Als sie hörte, dass an der Schule Pieterlen Lehrkräfte gesucht werden, wollte sie es probieren. Für sie war es die richtige Entscheidung.
Die Arbeit mit Kindern habe ihr eine andere Perspektive auf ihr Leben und ihren Alltag gegeben. «Ich habe durch die Kinder gelernt, Freude an Dingen zu haben, die ich vorher nicht hatte.» Kleine Sachen wie ein Regenbogen vor dem Schulfenster zum Beispiel. Die Kinder sind der Grund, weshalb sie in den Job eingestiegen ist.
Von der Schule komme kein Druck, die Ausbildung an der Pädagogischen Hochschule nachzuholen. Trotzdem möchte Michèle 2026 ihr Studium beginnen.
Risiko oder Bereicherung?
Gehen Schulen ein Risiko ein, wenn sie Lehrkräfte ohne entsprechende Ausbildung vor Schulklassen stellen? José Oberson ist der Schulleiter in Pieterlen und sagt: «Wir haben ja gar keine Wahl.» Und sie seien auch nicht die einzigen. Im Kanton Bern gäbe es rund 2500 Lehrkräfte ohne adäquate Ausbildung. Es gehe darum, das Risiko zu minimieren, so Oberson. Doch ihm ist bewusst, dass sich der Unterricht ohne Diplom auch negativ auf das Bildungsniveau der Schülerinnen und Schüler auswirken kann.
«Es gibt Studien, die das zeigen. Das kann man nicht beschönigen.» Die Ausbildung als Lehrperson sei eine Substanz, die aufgebaut werden müsse. Es sei daher logisch, dass die Unterrichtsqualität beeinflusst werde. «Unsere Aufgabe in der Schulleitung und beim Kanton ist es, ein unterstützendes Netz für die neuen Lehrpersonen zu aktivieren.» Wichtig sei es, Talente zu erkennen und diese ins Schulsystem zu holen.
Der Sprung ins kalte Wasser
Marko Ristic ist einer davon. Er hat ein Publizistikstudium absolviert und anschliessend in diesem Bereich gearbeitet – auf einer Bank, in einem Architekturbüro. So richtig zufrieden war er in diesen Jobs allerdings nicht. Als ihn eine Kollegin fragte, ob er als Lehrer einsteigen würde, war er zunächst skeptisch. Er dachte an seine eigene Schulzeit zurück: «Ich fühlte mich damals als Mensch, als Marko, nicht ernst genommen. Ich war einfach irgendein Schüler.» Er sei vorlaut gewesen, habe auch mal einen unangebrachten Spruch gemacht.
In der ersten Woche war ich sehr nervös.
Doch als er mit Freunden und Familie über die Idee redete, auf den Lehrerberuf umzusteigen, bestärkten sie Marko in dieser Rolle. Im August 2020 wagte er den Sprung ins kalte Wasser – er wurde Klassenlehrer an der Oberstufe in Neunkirch SH. «In der ersten Woche war ich sehr nervös», erinnert er sich. «Ich wusste ja nicht, ob mich die Jugendlichen auslachen oder dumm finden.» Marko gibt in dieser ersten Woche Vollgas. Und dann?
Am Freitag nach der letzten Lektion legte er sich kaputt aufs Sofa und realisierte: «Das hat sich richtig gut angefühlt. Das Unterrichten hat mir mega Spass gemacht.» Er findet in seinem Beruf eine sinnvolle Tätigkeit. Und er profitiert bis heute von den Erfahrungen, die er in seinen vorherigen Jobs gemacht hat.
Erfahrungen aus der Privatwirtschaft als Vorteil?
Im Unterricht erzählt er den Schülerinnen und Schülern auch von Dingen, die ihm im alten Beruf nicht geglückt sind – von Fehlern, die er gemacht hat. «Als ich zum Beispiel zu viel hinterfragt habe oder für das ganze Team sprechen wollte und darauf das Team wechseln musste.» Im ersten Moment sei das schlimm gewesen, danach aber nicht mehr. Hat er durch diese Erfahrungen anderen Lehrpersonen, die eine klassische Ausbildung haben, etwas voraus?
«Ich vermute schon», sagt Marko. «Ich war 10 Jahre in der Privatwirtschaft tätig, und da sammelt man schon andere Erfahrungen als in der Kantonsschule oder der Pädagogischen Hochschule. Ich glaube, es kommt auch authentischer rüber, wenn ich aus der Praxis erzählen kann und nicht sage, dass es so im Lehrmittel steht.» Wie Michèle hat auch Marko die Pädagogische Hochschule nicht besucht.
Ich habe einfach nur noch geliefert
Stattdessen besucht er das Programm »ready for teaching» im Kanton Schaffhausen. Nach Abschluss der Ausbildung wird er noch einen Lohnabzug von 10 Prozent haben. Die hohen Ansprüche an Marko als Lehrperson, aber auch seine eigenen Erwartungen, brachten ihn an seine Grenzen.
Burnout und Balance
«Ich habe einfach nur noch geliefert», so Marko. Alles andere neben dem Job wurde unwichtig. «Wenn ein Kollege etwas erzählte, das ihm wichtig war, kam das bei mir gar nicht mehr an.» Er stand vor einem Burnout und musste einsehen, dass es so nicht weitergehen konnte. Deshalb hat er mit einer Therapie begonnen.
Zunächst musste er lernen, auf seinen Schlaf zu achten. «Und ich musste lernen, die Sachen nicht mit nach Hause zu nehmen.» So lässt er heute den Laptop nach Schulschluss in der Schule. «Wenn ich weg bin, bin ich weg», so die Idee. Bis er wirklich abschalten konnte, habe es aber zwei Jahre gedauert. Marko liebt seinen Job und hat zum Teil auch noch Kontakt mit ehemaligen Schülern.
Beziehungsarbeit im Unterricht
Thayson und Nils besuchen ihren alten Klassenlehrer regelmässig. Nach der Oberstufe haben sie beide eine Lehre zum Fachmann Gesundheit angefangen. Zum Lernen kommen sie manchmal zurück an ihre alte Schule. Sie erinnern sich an den Unterricht bei Marko: «Bei den anderen Lehrern war der Unterricht sehr strikt. Und bei ihm konnten wir auch mal Spass haben.» Und Thayson sagt, er habe von Marko auch fürs Leben gelernt.
«Marko hat uns immer gesagt: Wenn man jemandem etwas gibt, kommt es immer doppelt retour.» Das nehme er sich zu Herzen. Marko erinnert sich sehr gerne an seine ehemalige Klasse zurück. Für ihn ist klar: Er möchte der Lehrer sein, den er selbst nie hatte.