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Sozialversicherung IV System IV – die grosse Macht der Gutachter

Fehlerhafte Gutachten, mangelnde Kontrolle und Spardruck zerstören Leben von versicherten Menschen. Und das seit Jahren.

«Ich bin kein Einzelfall. Es sind Tausende, denen es gleich gegangen ist wie mir», sagt der 62-jährige Rolf Büetiger. Der ehemalige Schreiner hat ein Geburtsgebrechen im Rücken.

Seit Jahren quälen ihn heftige Schmerzen. Er kann kaum gehen, muss meistens liegen. Trotzdem: Für die Invalidenversicherung (IV) ist er gesund und arbeitsfähig.

Gutachterfirma schreibt ihn gesund

Während 15 Jahren hat Rolf Büetiger wegen der Auswirkungen seines Rückenleidens eine IV-Rente erhalten. Doch im Rahmen einer Revision schickte ihn die IV-Behörde erneut zu einer Gutachterfirma.

Gutachterfirma PMEDA unter Verdacht 

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Die Gutachterfirma PMEDA agierte in der Schweiz stets als Briefkastenfirma, wie Recherchen von «SRF Dok» belegen. Gegen die Firma und zwölf ihrer Ärzte ermitteln deutsche Steuerbehörden wegen Steuerhinterziehung.

Tausende Schweizer Patientenakten wurden in Deutschland beschlagnahmt, was einen Verstoss gegen das Amtsgeheimnis darstellt. Es gilt die Unschuldsvermutung. Der PMEDA-Inhaber Henning Mast hat die Fragen von «SRF DOK» nicht beantwortet. Er hat weder auf Telefonanrufe noch auf E-Mails, Handyanrufe und Briefe der Redaktion reagiert.   

PMEDA wurde 2013 vom deutschen Neurologen Henning Mast gegründet und spezialisierte sich auf komplexe, polydisziplinäre Gutachten.

Über Jahre hinweg wurde sie für fehlerhafte Gutachten kritisiert. Im Herbst 2023 beendete das Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) die Zusammenarbeit mit PMEDA auf Empfehlung der eidgenössischen Kommission für Qualitätssicherung (EKQMB), nachdem bei einer Mehrheit der Stichproben von 2022/23 gravierende formale und inhaltliche Mängel festgestellt worden waren.

Die Gutachterfirma PMEDA kommt zum Schluss: Büetiger ist zu 100 Prozent arbeitsfähig. Nun kämpft er rechtlich gegen dieses Gutachten an. Doch die Chancen auf Erfolg sind gering.  

Kampf gegen fehlerhafte Gutachten 

Seit einem Jahrzehnt wehrt sich Michael Mattern gegen sein Gutachten. Durch eine Tonaufnahme kann er nachweisen, dass die in seinem Gutachten genannten Tests nie durchgeführt wurden.

Doch sowohl die IV als auch sämtliche Gerichte haben das Gutachten durchgewinkt. «Dieses Gefühl, dass man eigentlich mit den Betroffenen machen kann, was man will, das Gefühl verfestigt sich im Laufe der Jahre», sagt der ehemalige IT-Berater Mattern.

Gutachten sind im IV-Prozess von zentraler Bedeutung 

«Was im Gutachten steht, das gilt», sagt Jurist Michael Meier von der Universität Zürich. Im Rahmen seiner Forschungstätigkeit hat er sich vertieft mit Gutachten beschäftigt.

Sinn und Zweck der Invalidenversicherung (IV)

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Die Schweizerische Invalidenversicherung (IV) wurde 1960 eingeführt, um Menschen, die aufgrund von Krankheit oder Unfall dauerhaft arbeitsunfähig sind, finanziell zu unterstützen und deren Integration in den Arbeitsmarkt zu fördern. Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern wird dafür 1.4 Prozent vom Bruttolohn abgezogen, Selbstständige bezahlen ebenfalls in die IV ein.

Sind IV-Versicherte mit ihrem Gutachten nicht einverstanden, sei es «sehr, sehr schwierig», dieses Gutachten vor Gericht wieder «wegzubringen», so Meier.

Gemäss Statistik gelingt es in einem Viertel der Fälle.  

Rentenentscheide: Mehrheit beruht auf Gutachten 

Die Mehrheit aller Rentenentscheide fällt die IV inzwischen mittels Gutachten.

Bei nicht klar diagnostizierbaren Krankheiten ist das Gutachten das Mass aller Dinge. Externe privatwirtschaftlich organisierte Kapitalgesellschaften erstellen nach den Vorgaben der Versicherungsmedizin die Grundlage für den Rentenentscheid.

Für die Betroffenen ist die Expertise der Gutachter ausschlaggebend.  

Gutachten als Mittel zur Renteneinsparung 

Die Vergangenheit zeigt, wie effektiv durch Gutachten Renten eingespart werden können.

Während die Kosten für IV-Gutachten zwischen 2008 und 2023 auf das Vierfache gestiegen sind, sind die ausbezahlten Renten im gleichen Zeitraum gesunken.

Seit Jahren verharren die Zahlen bei etwa 220’000 Voll- und Teilrenten – und das, obwohl die Schweizer Bevölkerung zwischen 2008 und 2023 um über eine Million Menschen gewachsen ist.

Der Schuldenberg der IV

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In den frühen 2000er-Jahren nahm die Zahl der Rentenempfänger deutlich zu. Gründe waren unter anderem Wirtschaftskrisen und eine Zunahme von psychischen Erkrankungen.

Die IV häufte Milliardenschulden an. Im Wahlkampf 2003 lancierte die SVP die Debatte der «Scheininvaliden», das Bundesgericht verschärfte seine Rentenpraxis und mit mehreren IV-Revisionen zwang man die Invalidenversicherung zum Sparen.   

Heute hat die IV immer noch einen Schuldenberg von zehn Milliarden. Doch die Rentenzahlen sind seit Jahren stabil, ein Defizit wird nicht mehr geschrieben.

Das Auffangnetz IV lässt Menschen fallen 

«Die Erwartung der Bürgerinnen und Bürger ist, dass, wenn sie ihre IV-Beiträge bezahlen, sie abgesichert sind für den Fall, dass sie einen Gesundheitsschaden haben», sagt Thomas Gächter, Professor für Sozialversicherungsrecht an der Universität Zürich.

Im Rahmen seiner Forschungstätigkeit stellte er allerdings fest, dass für verschiedene Krankheitsbilder und Versichertengruppen dieses Netz nicht tragt. Gächter meint: «Diesen Leuten wurde ganz konkret die Zuversicht genommen, dass dieses System funktioniert und wir alle genügend abgesichert sind.» 

Versicherte sind Gutachtern ausgeliefert 

Ein aktuelles Beispiel für eine Krankheit, bei der Versicherte systematisch zu Gutachtern geschickt werden, ist Long Covid.

Die 50-jährige Informatikerin Eveline Aufiero ist laut mehreren Ärzten aufgrund der Auswirkungen ihrer Krankheit nur noch zu 20 Prozent arbeitsfähig. Doch die Gutachterfirma Medexperts aus St. Gallen kommt in ihrem Bericht zu einem anderen Schluss: Eveline Aufiero habe eine Arbeitsfähigkeit von 80 Prozent.

Ich hätte es nicht für möglich gehalten, dass mir die Unterstützung einfach verweigert wird.
Autor: Eveline Aufiero Betroffene

Für die Versicherte beginnt nun ein Rechtsstreit. Fassungslos erklärt Aufiero: «Ich hätte es nicht für möglich gehalten, dass mir die Unterstützung einfach verweigert wird.»  

Stellungnahme Medexperts

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Die Gutachterfirma Medexperts aus St. Gallen wollte sich zum Fall von Eveline Aufiero nicht äussern. Sie schreibt «DOK»: «Die medexpertsag ist eine medizinische Gutachterstelle, die im Auftrag von Gerichten, Behörden, Versicherungen und anderen Auftraggebern unabhängige medizinische Gutachten erstellt. […] Soweit die medexpertsag für Gerichte oder Behörden tätig ist, untersteht sie auch dem Amtsgeheimnis. […] Es ist uns daher nicht möglich bzw. verboten, aussenstehenden Drittpersonen in irgendeiner Art über die von der medexpertsag erstellten Gutachten Informationen zu erteilen.»

Kritik an Aufsichtsbehörde BSV  

Die Aufsicht über Gutachterfirmen, welche komplexe polydisziplinäre Gutachten erstellen, hat das Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV).

Seit Jahren gibt es Kritik an der Behörde, sie nehme ihre Aufsichtsfunktion nicht wahr, es fehle eine einheitliche Qualität bei Gutachten.

Das BSV selbst kam 2020 in einer eigens in Auftrag gegebenen Studie zum Schluss, dass es Defizite bei den Gutachten und der Aufsicht gibt. Daraufhin wurden Verbesserungsmassnahmen ergriffen.

Unter anderem nahm im Januar 2022 die erste unabhängige Kontrollstelle ihr Amt auf: die Eidgenössische Kommission für Qualitätssicherung in der Begutachtung (EKQMB). 

Gutachterpauschalen: ein falscher Anreiz 

Kritiker bemängeln, dass die Pauschalen im Abklärungsverfahren der Sozialversicherung IV private Kapitalgesellschaften zu schnellen, oberflächlichen Gutachten anregen.

Gutachter haben heute den Anreiz, eine möglichst hohe Gewinnmarge zu erzielen, indem sie wenig leisten.
Autor: Rémy Wyssmann Fachanwalt SAV Haftpflicht- und Versicherungsrecht

Während schnelle Gutachten mit 12’000 bis 20’000 Franken honoriert werden, erhielten sorgfältige Arbeiten nicht ausreichend Entschädigung.

Fachanwalt Rémy Wyssmann erklärt: «Gutachter haben heute den Anreiz, eine möglichst hohe Gewinnmarge zu erzielen, indem sie wenig leisten. Das darf nicht sein. Ich verlange eine gute Abklärungstiefe mit Stundenrapport.»

Stellungnahme BSV

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Das Bundesamt für Sozialversicherungen äussert sich nur schriftlich und nimmt bezüglich der Gutachterpauschalen folgendermassen Stellung:

«Die Gutachten werden von den IV-Stellen und den Regionalen Ärztlichen Diensten der IV darauf geprüft, ob sie die gestellten Fragen beantworten und ob sie den Qualitätsvorgaben genügen. Wenn nicht, gehen sie zurück an den Absender. IV wie Gutachterinnen und Gutachter sind daran interessiert, dass die Gutachten auch vor Gericht genügen. Ein Gutachter bzw. eine Gutachterin würde sich mit einem unsorgfältigen Gutachten einigen Zusatzaufwand verursachen. Der genannte Anreiz besteht nicht.»

Jahrelanger Kampf gegen fehlerhaftes Gutachten 


Der ehemalige Schreiner Rolf Büetiger lebt seit zehn Jahren von der Sozialhilfe. Das Gutachten hat sein Leben ruiniert.

Der ehemalige IT-Berater Michael Mattern hat vor ein paar Jahren im Rahmen einer IV-Revision eine Rente erhalten. Doch seine viel höhere Pensionskassenrente wird er nie bekommen: Diese stützt sich auf sein Ursprungsgutachten der Gutachterfirma PMEDA, das ihn für gesund erklärte.

Man fragt sich halt schon, was das für ein System ist, was das mit Rechtsstaatlichkeit zu tun hat.
Autor: Michael Mattern Betroffener

Die Firma ist in Liquidation, Matterns letzte Hoffnung ist eine hängige Strafanzeige gegen sie.

Doch nach all den Jahren ist Mattern desillusioniert: «Man fragt sich halt schon, was das für ein System ist, was das mit Rechtsstaatlichkeit zu tun hat.»

SRF 1, DOK, 19.9.2024, 20:05 Uhr;kobt

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