Es ist ein Freitagabend wie jeder andere. Die Restaurants in unserem Viertel in Paris, dem 11ten Arrondissement, sind voller Gäste. Das Wetter ist mild, so dass viele draussen sitzen. Mein Mann und ich essen in einem kleinen japanischen Restaurant zu Abend und gehen dann in unsere Stammkneipe, die sich direkt gegenüber unserer Wohnung befindet. Ahmed, der Besitzer, ein stämmiger Berber aus Algerien, hat dort eine Leinwand angebracht, auf der man Fussballspiele anschauen kann. An diesem Abend spielt Frankreich gegen Deutschland. Das Publikum kommt von überall her, aus Nordafrika, aus Osteuropa und es sind auch ein paar waschechte Franzosen dabei.
Ahmed weiss, dass ich Deutsche bin. Er hat Verständnis dafür, dass ich nicht immer die französische Mannschaft unterstützen kann, vor allem dann nicht, wenn sie gegen Deutschland spielt. Wir lachen, wir johlen, die anderen für Frankreich, ich für Deutschland.
Da geschieht etwas, das ich nicht an mich heranlassen will
Zuerst nehme ich kaum wahr, dass ein Feuerwehrwagen vorbeifährt, aber dann kommt ein zweiter und ein dritter. Sie fahren die Avenue Parmentier hinunter. Wir denken uns nichts weiter dabei. Es muss irgendwo brennen. Dann fahren plötzlich auch Feuerwehrwagen in die entgegengesetzte Richtung. Immer mehr Gäste sind vom Fussball abgelenkt und wenden ihre Köpfe, um aus dem Fenster zu schauen. Da taucht ein Polizeiwagen auf und rast mit Vollgas falsch herum in unsere Strasse hinein, die Rue de la Fontaine au Roi, eine Einbahnstrasse, die in die Avenue Parmentier mündet. Wahnsinn! Die anderen beginnen, sich darüber zu unterhalten. Aber ich will beim Fussball bleiben. Nicht weil ich so ein grosser Fussballfan bin, sondern weil da etwas geschieht, das ich nicht an mich heranlassen will.
Während mein Mann und die meisten anderen inzwischen am Fenster stehen, bleibe ich vor der Leinwand sitzen. Aber dem Geschehen auf dem Rasen kann ich doch nicht mehr so recht folgen. Ich sehe wie eine Frau in die Kneipe kommt, in Tränen aufgelöst. «Da passiert etwas ganz Schlimmes», erzählt sie, «unten im Restaurant Bonne Bière, da wird geschossen». Das Bonne Bière ist gerade mal 150 Meter von Ahmeds Kneipe entfernt, wir sind dort oft. Ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass in diesem netten Lokal irgendetwas Schreckliches vor sich gehen soll. Dann kommen Leute herein, die über Ahmeds Kneipe im dritten Stock wohnen. Auch sie sind aufgeregt. Sie berichten, sie hätten Schüsse aus einem Maschinengewehr gehört.
Die Polizisten wirken angespannt und etwas hilflos
Inzwischen hat die Polizei die Rue de la Fontaine au Roi abgesperrt, mehrere Polizeiwagen stehen auf der Kreuzung und die schwer bewaffneten Polizisten wirken extrem angespannt und ein wenig hilflos in ihren dicken kugelsicheren Westen. Zuerst kümmern sie sich nicht um uns, aber nach ein paar Minuten kommt einer von ihnen in unser Lokal und teilt uns mit, es handele sich um einen Terroranschlag, der noch immer im Gange sei. Diejenigen von uns, die in der Nähe wohnten, sollten sofort nach Hause gehen. Ahmed solle die Rollläden runterlassen und die anderen Gäste einschliessen.
Sind unsere Kinder in Sicherheit?
Also gehen wir nach Hause. Ich kann einfach nicht begreifen, wieso wir in unserer Strasse zur Zielscheibe von Terroristen werden sollten. Zu Hause schalten wir den Fernseher ein und erfassen nach und nach das Ausmass der Anschläge: Stade de France, die Restaurants, das Bataclan. Zuerst denke ich, dass unsere Kinder bestimmt an keinem dieser Orte sind. Ich habe immer das Gefühl gehabt, dass sie in Paris in Sicherheit sind.
Unsere Kinder kennen diese Stadt in- und auswendig, sie fahren allein Metro, seitdem sie zehn oder elf Jahre alt sind. Sie kennen sich hier aus, was soll ihnen passieren? Aber dann wird mir klar, dass diese Logik nicht mehr greift. Wenn sie zur falschen Zeit am falschen Platz sind, nützt es ihnen nichts, dass sie sich auskennen.
Es ist, als würden wir uns zählen
Mich beschleichen Zweifel. Wir sind eine Patchwork-Familie mit fünf Kindern, und mir wird plötzlich klar, dass ich gar nicht genau weiss, wo sie alle sind. Ich überlege: Eine Tochter studiert in Kanada, sie ist in Sicherheit. Die zwei jüngsten sind bei ihrem jeweils anderen Elternteil. Wir rufen unsere Ex-Partner an, um sicherzugehen. Alles in Ordnung.
Zwischendurch klingelt immer wieder das Telefon, Nachbarn und Freunde rufen an . Es ist, als würden wir uns zählen. Warst du dort? Oder du? Wo sind deine Kinder?
Und was ist mit unseren beiden Ältesten, die inzwischen eigene Wohnungen haben? Sie gehen öfter zu Konzerten ins Bataclan, sie trinken Bier im Carillon, das am Wochenende immer voller junger Leute ist, und sie essen im Petit Cambodge, wo es für wenig Geld gutes Essen gibt. Genau diese Orte haben die Terroristen angegriffen.
Wir versuchen beide zu erreichen. Keiner antwortet. Ich werde nervös und habe plötzlich das Gefühl, dass da vielleicht etwas passiert, das unser Leben komplett verändern wird. Etwas, wofür es gar keine Worte gibt. Ich bin verdammt erleichtert, als sie beide nach ein paar Minuten zurückrufen. Wir haben Glück, sie sind an diesem Abend woanders. Aber ich kann meine Augen nicht mehr von den Bildern der Eltern wenden, die vor dem Bataclan stehen und wissen, dass ihre Kinder dort drinnen sind.
Eine Mutter ist kreidebleich, sie scheint sich kaum auf den Beinen halten zu können. Andere wirken gefasst, als meinten sie, dass ihre positive Haltung ihren Kindern helfen könnte. «Mein Gott», denke ich, «wie schnell kann sich ein Leben wenden.»
Für meinen Film ging ich auf die Menschen zu, die in meinem Quartier leben und frage nach, wie die Anschläge ihr Leben verändert haben. Dabei traf ich Louise: