Wie kommt ein Delfin aus dem Meer in den Amazonas? Wohlverstanden, nicht heute, sondern vor unvorstellbaren 12 Millionen Jahren. Als im Gebiet des heutigen Südamerikas Plattenverschiebungen der Erdkruste das Gebirge der Anden empor stemmten, entstand westlich davon ein Meer im Innern des Kontinents. Dort fand eine urtümliche Gruppe von Delfinen Zuflucht, die aus dem Ozean kam und sich mit der langsamen Wandlung dieses Binnenmeeres ins heutige Amazonas-Flusssystem langsam ans Süsswasser anpasste: Unter ihnen der sagenumwobene Rosarote Delfin.
Der elegante Vater
Lange ging das Zusammenleben mit den Menschen, die sich erst vor etwa 15‘000 Jahren in Südamerika angesiedelt hatten, gut. Es waren nur wenige und sie würdigten die rund zweieinhalb Meter grossen Delfine als Väter ihrer unehelichen Kinder: Die Legenden berichteten von Flussdelfinen, die sich nach Sonnenuntergang in schöne junge Männer verwandelten und heimlich die Frauen der Ureinwohner verführten. Keine Frage, dass diese so menschenähnlichen Tiere geachtet waren und während Jahrtausenden vor der Invasion der weissen Menschen, ja bis vor etwa 15 Jahren, nicht gejagt oder getötet wurden.
Kultur und Natur verloren
Heute ist das riesige Regenwaldgebiet im Einzugsgebiet des Amazonas eine wahre Goldgrube: Nicht nur Gold, sondern auch Tropenholz, Viehzucht, Erdöl und Erzvorkommen locken Scharen von Menschen an, die das weite Waldgebiet durchdringen. Die einheimischen Kulturen gerieten massiv unter Druck und mit ihnen die Natur, in der sie lebten. Aus den geachteten Mitgeschöpfen, den Flussdelfinen oder Botos, wurden in den letzten Jahren zerhackte, billige Angelköder für die lukrative Fischerei auf Welse: Opfer des Hungers fremder Menschen.
Kleiner Erfolg für Botos
Seit über 20 Jahren studiert eine internationale Gruppe von WissenschafterInnen die Flussdelfine und musste in den letzten Jahren einen dramatischen Rückgang feststellen – dieser ist derart rapide, dass die völlige Ausrottung in naher Zukunft befürchtet werden muss – wie bei einer ähnlichen Art von Flussdelfinen im Yang-Tse-Fluss in China. Nicht zuletzt, weil Delfine ein grosses Publikum bewegen, haben inzwischen die brasilianischen Behörden ein Verbot des Köderfischfangs zum Schutz der Botos erlassen.
Immer dieselbe Geschichte
Fast überall, wo Tiere in Gefahr geraten auszusterben, zeigt sich eine ähnliche Geschichte: Lebensgemeinschaften von Menschen und Tieren, die seit Jahrtausenden nachhaltig und respektvoll in einem langfristigen Gleichgewicht zusammen lebten, werden von Wirtschaftsströmen und Einwanderern überrannt. Häufig sind das arme Menschen, die anderswo kein Auskommen mehr finden. Sie verdrängen in kurzer Zeit die alten Lebensgemeinschaften, ohne jede Beziehung zum Land mit seiner Kultur und Natur, in das sie kommen. Unbegrenzte Mobilität und unbegrenzt globalisierte Märkte tragen das ihre zu diesen Strömen bei. Längst wird in Shanghai, Tokyo oder New York entschieden, wenn im tropischen Südamerika wieder ein Stück Regenwald abgeholzt oder in einem neuen Stausee versenkt wird.
Wirtschaft tilgt Jahrmillionen
Die Wirtschaft prägt weltweit die Gesetze. Und so geraten auf dem ganzen Planeten, Stück für Stück, auch die letzten Naturräume unter Druck. Und mit ihnen Tiere und Pflanzen, die sich in wundersamen Geschichten während Millionen von Jahren entwickelt und behauptet hatten – und man stelle sich dabei nur einmal eine Million Jahre vor! Sie haben alles überlebt: Die geologische Entstehung und den Zerfall von Gebirgen und Meeren, Erdbeben und Vulkanausbrüche, Warm- und Eiszeiten – alles. Und jetzt, in wenigen Jahrzehnten drohen sie von unserem Planeten für immer zu verschwinden, verdrängt von einer einzigen Art, die sich nicht zu begrenzen weiss und alles zerstörerisch für sich in Beschlag nimmt.
Ab und zu blitzt das gewaltige Drama kurz auf. Als Nebensatz, als Amen in einer Tierdokumentation am Bildschirm – meist auf öffentlich-rechtlichen Sendern. Es macht uns vielleicht sogar kurz betroffen. Aber darüber hinaus: Tun wir in unserem Leben – mit Blick auf unsere Kinder – genug, um unseren wirkungsvollen Beitrag gegen das derzeitige, weltweite Umweltdrama zu leisten?