Das Schreien, das Wimmern, das Weinen der Kinder. Es ist unerträglich. Am Vorabend erst bin ich auf der griechischen Ferieninsel Lesbos angekommen. Ein verregneter, kalter Nachmittag. Und bereits kommt das erste Boot mit Flüchtlingen. Ich eile hinter Michael Räber an den Strand. Der 39-Jährige aus Münsingen ist seit vier Monaten als freiwilliger Helfer auf der Insel. Er watet ins kalte Wasser und bildet mit anderen Helferinnen und Helfern eine Menschenkette zwischen dem Fischerboot und dem Strand. Durch den Sucher meiner Kamera sehe ich, wie als erstes die Babies und Kinder vom Boot zum Strand weitergereicht werden. Ihre Mütter schauen verzweifelt zu. Ich habe schon viele belastende Situationen gefilmt. Der Blick durch die Kamera bietet dabei eine gewisse Distanz, einen Schutzschild. Doch der Ton aus meinem Kopfhörer lässt keine Distanz mehr zu. Das Schreien, das Wimmern, das Weinen der Kinder. Es ist unerträglich. Für einen Moment muss ich die Kamera absetzen.
Vor meinen Augen weinen völlig erschöpfte Menschen.
Ich betrachte die Szenerie am Strand. Da kommen tatsächlich über zweihundert Menschen auf einem überfüllten Fischkutter in Europa an, und die einzigen, die ihnen zu Hilfe eilen, sind freiwillige Helfer. In Brüssel diskutiert man die Sicherung der Aussengrenzen und die Gefahr von Terroristen, die auf dem Seeweg nach Europa gelangen könnten. Und vor meinen Augen weinen völlig erschöpfte Menschen, weil sie nach stundenlanger Überfahrt wieder festen Boden unter den Füssen haben. Weil sie sich nach monatelanger Flucht erstmals in Sicherheit fühlen.
Einige fallen auf die Knie, küssen den Boden. In verweinten Gesichtern taucht ein Lächeln auf. Mütter schliessen erleichtert ihre Kinder wieder in die Arme und wickeln sie in wärmende Rettungsdecken ein. Noch am Strand führe ich ein Interview mit Helfer Michael Räber. Obwohl er schon unzählige solcher Einsätze hinter sich hat, ist er aufgewühlt: «Seit Monaten geht das so. Jeder weiss es. Und es passiert nichts. Es wird einfach ignoriert. Europa diskutiert nur aus einer Perspektive der eigenen Sicherheit, und nicht aus der Perspektive der Menschen auf diesem Boot. Das ist nicht in Ordnung. Das sind nicht unsere Werte.»
Freiwillige haben eine erstaunliche Infrastruktur auf die Beine gestellt.
Flüchtlingshilfe in Griechenland
In den folgenden Tagen filme ich weitere Boote, die ankommen. Und ich filme die freiwilligen Helferinnen und Helfer. Zum Beispiel Liska Bernet aus Zürich. Sie koordiniert die Hilfe im Flüchtlingslager Moria. Hier müssen sich alle registrieren lassen, bevor sie aufs Festland weiterreisen können. Und auch hier hilft das offizielle Europa nicht. Es sind Laien, die eine erstaunliche Infrastruktur auf die Beine gestellt haben. Es gibt medizinische Versorgung, ein Zelt für stillende Mütter, trockene Kleider, Essen und heissen Tee. Und es gibt Mitgefühl und Geborgenheit. Ein Gut, das für die Flüchtlinge aus Kriegsgebieten völlig neu ist.
Auf sicherem europäischen Boden
Meine Ungewissheit, wie die traumatisierten Menschen auf die Fernsehkamera reagieren würden, verfliegt schnell. Viele geben bereitwillig Auskunft, lassen sich filmen. Einige fordern mich sogar auf, sie zu verewigen. Als könnten sie es selbst noch nicht fassen, dass sie jetzt auf sicherem europäischem Boden stehen. Ich filme junge Männer, die strahlend das Victory-Zeichen in die Kamera strecken. Ich traue mich nicht ihnen zu sagen, dass ihr Kampf für ein besseres Leben noch lange dauern wird. Denn leicht werden sie es in Europa nicht haben.
Das Hilfsprogramm von Michael Räber
Michael Räber aus Münsingen gehört auf Lesbos zu den Helfern der ersten Stunde. Am 5. Januar ist er einmal mehr vor Ort als ein Boot mit über 200 Flüchtlingen an der Nordküste ankommt. Gemeinsam mit anderen freiwilligen Helferinnen und Helfern bildet der 39-Jährige eine Menschenkette um die Flüchtlinge sicher an Land zu bringen. Auf den Bildern ist Räber selbst nicht zu sehen. Er trägt eine kleine Kamera auf der Brust und dokumentiert, wie er die dramatischen Minuten so eines Hilfseinsatzes erlebt.