Kaum den ersten Fuss auf Schweizer Boden hebt der Österreicher an zur brachialen Ouvertüre:
«Die Schweiz, das ist eine Mischung aus zwei Charakteren, von denen jede einzelne davon so unerträglich wäre, dass man sofort in allen Ländern Asyl bekommen würde, täte man deshalb aus der Schweiz fliehen. Aus dem Land von Biederkeit und Anarchismus.»
Und dann trägt der Schriftsteller Robert Menasse dicken Schmäh auf. Eine Liebeserklärung auf Wienerisch:
«Biederkeit oder Anarchismus alleine, das ist un-erträg-lich. Miteinander ergeben diese Schweizer Charaktere aber fast ein menschliches Ideal. Ein europäisches Vorbild.»
Das sitzt. Auch bei Literaturkrikiker Stefan Zweifel. Er hat ein paar Tage Robert Menasse zu Besuch. Der Zürcher Literat macht mit dem österreichischen Nachbar eine Reise auf der Suche nach dem Herz der Schweiz. Als Reporter bin ich sozusagen im Seitenwagen mit dabei.
Das Herz der Schweiz ist aus Granit. Vorbei am grossen und kleinen Mythen geht’s hinauf zum ganz grossen Mythos: Der österreichische Gast wird erst einmal auf den Gotthard geführt. Stefan Zweifel zeigt seinem Besuch eine bis vor kurzem streng geheime militärische Anlage im sagenumwobenen Reduit.
Heute hat sich im Fels das Hotel Claustra eingebunkert. Offenbar ist uns Schweizern die Ein-Igelung in Leib und Seele übergegangen: Ein geschäftstüchtiger Eidgenosse hat hier ein Luxus-Hotel eröffnet. Für 9 Millionen Franken wurde ein gläserner Rückzugsort für Seminarbesucher und reiche Touristen eingebaut.
Den Kettenraucher Menasse, nun schon eine ganze Stunde im Bunker, provoziert dieses Luxushotel:
«Das ist ein über lange Zeit gewachsenes Klischee der Schweiz. Der bedingungslose Wille zur Verteidigung. Die Schweiz als eine Wagenburg. Und in der Mitte ist der Goldschatz.»
Im Herz der Schweiz, mitten im Fels, rezitiert Stefan Zweifel uns aus dem rebellischen Spätwerk von Friedrich Dürrenmatt, aus dem «Winterkrieg im Tibet». Nicht in Stein, aber in Worte gemeisselt. Dürrenmatts Buch ist tausend Seiten dick. Zweifel hat daran seinen Spass. Immerhin sei er in der Lage mehrere hundert Seiten im Tag zu lesen.
Meinem Kameramann Peter Hammann fällt schon bald der Arm ab. Und mir wird klar, dass sich Menasse und Zweifel in ihren dicken Büchern kürzer fassen können, als vor Kamera und Mikrofon. Aber wenn auch ihre Gedankenakrobatik auf einer oberen Etage stattfindet, rütteln die beiden Literaten ganz schön an meinem patriotischen Fundament.
Nächster Halt Altdorf.
Nein. Da war doch noch was? Auf der Fahrt vom Gotthard passieren wir die Teufelsbrücke. Welch teuflisches Bild: Beim Denkmal für den russischen General Suworow, der vor zweihundert Jahren tausende Soldaten hier liegenliess, geht’s ganz militärisch zu und her. Eine Gebirgskompagnie aus der Kaserne Andermatt seilt sich an und steigt vom Suworow mit seinen kyrillischen Riesenbuchstaben in den Granitfels ein.
Das teuflische an diesem Bild: Die paar Quadratmeter des Denkmals sind laut Staatsvertrag russisches Territorium. Die Schweizer Armee also auf russischem Boden.
Jetzt Telldenkmal.
Menasse und Zweifel sind stolz, dass es einer ihrer Zunft war, der der Schweiz die Tell-Heldengeschichte schenkte. Dass Schiller aber ein Ausländer war, kann sich Robert Menasse nicht verkneifen. Doch Stefan Zweifel verweist seinen Gast stolz darauf, dass es der Schweizer Max Frisch war, der den Wilhelm Tell mit seinem Buch «Willhelm Tell für die Schule» auf die Füsse stellte.
Schon wieder ist Menasse am Schwärmen:
«Das ist für mich Schweiz: Dass ein antiautoritärer Anarchist zum Grundmythos werden konnte. Willhelm Tell, der Rebell.»
Zur rebellischen Schweiz kommt für Stefan Zweifel die ver-rückte Schweiz.
Und er rechnet Menasse vor, dass dieser Schweizer Charakter altgriechische Wurzeln hat:
«Dieses Eigene das nennt man ja auf griechisch »idios« = idiotisch. Es gibt eine Abbildung aus dem 18. Jahrhundert wo Tell auf dem Platz steht, als Narr verkleidet und sein Hund pisst an die Stange von Gessler. Tell verbeugt sich nicht, weil er sozusagen den Narr spielt. Dieses Spiel des Narren, das hat die Schweiz auch immer wieder übernommen.»
Und er schlussfolgert in eigener Sache:
«Das wäre eine Tradition, an der man auch selber anschliessen könnte. Und mit Tell lernen, ein Idiot zu sein und die Welt eigensinnig zu sehen.»
Was meint dazu Menasse?:
«Ich glaub jeder Künstler ist ein Idiot. ---
Dazu muss ich nicht Schweizer werden.»
Unsere Reise geht weiter über den Zürichsee in die Stadt, in der im letzten Jahrhundert viele grosse Europäer als Flüchtlinge gestrandet sind. Und die mit den Worten von Robert Menasse, die europäische Kultur gerettet haben:
Thomas Mann, James Joyce, Berthold Brecht, Georg Büchner...
Stefan Zweifel als Dada-Kenner will seinem Gast das Cabaret Voltaire zeigen. Der französische Aufklärer war nie in Zürich. Aber sein Geist!
Der Club der Dadaisten! Da ahne ich schon, in welch geistige Galaxien unsere beiden Spürnasen aufsteigen. Ich sollte Recht haben. Zweifel rezitiert aus dem Gedächtnis ein Antikriegsgedicht aus der Zeit zwischen den Weltkriegen:
gadji beri bimba
gadji beri bimba glandridi laula lonni cadori
gadjama gramma berida bimbala glandri galassassa laulitalomini
gadji beri bin blassa glassala laula lonni cadorsu sassala bim
gadjama tuffm i zimzalla binban gligla wowolimai bin beri ban
o katalominai rhinozerossola hopsamen laulitalomini hoooo
gadjama rhinozerossola hopsamen
bluku terullala blaulala loooo
zimzim urullala zimzim urullala zimzim zanzibar zimzalla zam
elifantolim brussala bulomen brussala bulomen tromtata
velo da bang band affalo purzamai affalo purzamai lengado tor
gadjama bimbalo glandridi glassala zingtata pimpalo ögrögöööö
viola laxato viola zimbrabim viola uli paluji malooo
tuffm im zimbrabim negramai bumbalo negramai bumbalo tuffm i zim
gadjama bimbala oo beri gadjama gaga di gadjama affalo pinx
gaga di bumbalo bumbalo gadjamen
gaga di bling blong
gaga blung
Hugo Ball machte Unsinns-Verse gegen den Krieg. Er habe gemerkt, man kann nicht nur «Nein» zum Krieg sagen, man müsse auch «Nein» zum eigenen «Ich» sagen, zur Sprache, doziert Zweifel.
Dann geht’s mit dem Wiener Menasse ins einzige Wiener Cafe in Zürich, dem Odeon. Hier lag früher die ganze Weltpresse. Heut bloss Tagesanzeiger und NZZ.
Seit bald 40 Jahren habe er die NZZ abonniert, sagt mir Robert Menasse, darum sei sein Schweiz-Bild stark von dieser Zeitung geprägt. Der Schriftsteller verfolgt die helvetische Politik mit Blick von aussen. Mit Blick eines Europäers:
«Das Einzige was mich an der Schweiz immer wieder irritiert, ist der Fetisch der direkten Demokratie. Das Referendum gegen die Personenfreizügigkeit mit der EU ist einfach ein Vertragsbruch.»
Ich denke, selbst wer das anders sieht, muss anerkennen, dass wir auch so im europäischen Österreich wahrgenommen werden.
Zum Abschluss noch ein Besuch in der NZZ-Redaktion. Menasses Buch: «Die Vertreibung aus der Hölle», ist NZZ-Redaktor Andreas Breitenstein wohlbekannt. Das habe er einmal besprochen, zu Menasses Unzufriedenheit.
Und wie sich Menasse erinnert:
«Eine Seite über einen Fallfehler auf Seite 217. Aber der Duden sagte, dass es kein Fehler sei, nur in der Schweiz ungebräuchlich.»
Da erlebe ich, wie Robert Menasse, der so gern die Schweizer Biederkeit anprangert, ganz schön empfindlich sein kann. Trotz einer ganzen Seite Buchbesprechung in der NZZ, was damals einem Ritterschlag für den Schriftsteller gleichkam.
Bei der abschliessenden Schifffahrt geraten wir noch in eine schwyzerörgeli-feuchtfröhliche Seniorenwandergruppe: Biederkeit in helvetischer Reinkultur. Und was machen unsere beiden Anarchisten?
Sie rauchen. Ganz knapp im Rauchverbot des Kursschiffes.
Und Stefan Zweifel sinniert noch über diese Reise auf der Suche nach dem Herz der Schweiz:
«Die Schweiz sieht sich ja gerne als Insel. Als Insel des Friedens und des Wohlstands und natürlich der Wohlanständigkeit. Ich bin jetzt mit Robert Menasse ein paar Tage durch die Schweiz geschweift und er hat mit der Wünschelrute seiner Zigarette kleine Brandherde der Anarchie aufgespürt und damit auch meine Phantasie entflammt. Ich bin überrascht, dass die Schweiz gar nicht so langweilig ist, wie ich immer dachte.»
Der Reporter «Ein Österreicher sucht das Hezr der Schweiz» wird am 18. Oktober 2015 ab 21.40 Uhr online zu sehen sein.