Während ich schreibe und Sie lesen, werden schutzlose Kinder in unseren Städten von skrupellosen Erwachsenen misshandelt, vergewaltigt und ausgebeutet. Das passiert jeden Tag in Europa: an den Bahnhöfen grosser Städte, an den Häfen, in fremden Wohnungen und in anonymen Hotels. Wir nennen sie «UMF», das steht für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge. Aber eigentlich sind es Kinder, die häufig zwischen zehn und vierzehn Jahre alt sind, manchmal sogar jünger.
Hundertausende Kinder flüchten jedes Jahr nach Europa. Sie machen sich alleine auf die Reise zu Verwandten in dem einen oder anderen europäischen Land. Auf dem Weg zu ihnen suchen sie Geldquellen, um ihre weitere Reise zu finanzieren. Dafür schmuggeln sie Drogen, leben auf der Strasse, landen in den Fallen der Pädophilen, werden Opfer von Menschenhandel. Nach vielen Reisen, die häufig Jahre dauern, erreichen sie endlich ihr Ziel. Sie haben dann nicht «nur» die Traumata von Elend, Krieg und Flucht aus dem eigenen Land zu verarbeiten, sondern auch die Jahre auf den Strassen unserer Metropolen, in den Händen Krimineller.
Es ist eine verlorene Generation, die gerade in unseren Städten und Ländern aufwächst. Sie erleben die schlimmste Schattenwelt unseres Kontinentes.
Eine Frage des Glücks
Schon während der Filmrecherche merkte ich, dass viele Einrichtungen, Pflegefamilien, betreute Wohngruppen – überall in Europa – es schaffen, das Wohl der unbegleiteten Kinder sicherzustellen. Aufmerksamkeit, Anerkennung und eine kindgerechte Betreuung können der Schlüssel zu ihrer Integration in die neue Gesellschaft, in unsere Gesellschaft sein. Doch es ist eine Frage des Glücks, als Migrantenkind in Europa geschützt zu werden und eine Chance zur Integration zu bekommen. Denn es gibt Einrichtungen, die den Ruf haben, Kinder zu misshandeln, wie die von Melilla in Spanien, oder andere, die die Kinder flüchten lassen und häufig das Geld für ihre Betreuung weiter kassieren wie manche Aufnahmestellen Italiens. Wir haben im Laufe unserer Dreharbeiten selbst erlebt, wie es vierzehnjährigen Kindern aus Ägypten problemlos gelingt, aus einem Hot Spot auf Sizilien wegzulaufen und einen Nachtbus nach Mailand zu nehmen. Wir sahen, wie viele andere Kinder aus diversen Ländern Afrikas im gleichen Bus sassen. Alleine, ohne genau zu wissen, was auf sie zukommen würde.
Kompetenzloch mit schlimmen Folgen
Einrichtungen, die all das zulassen, dürfen weiter existieren und Fördergelder empfangen, denn es gibt keine zentralisierte Institution, die die Arbeit der einzelnen Aufnahmestellen kontrolliert. Niemand prüft, ob die Betreuer, die die hochsensible Aufgabe haben, sich um häufig schon vom Krieg und Elend traumatisierte Kinder zu kümmern, wirklich in der Lage sind, dies zu tun. Hier gibt es ein Kompetenzloch mit schlimmen Folgen. Ein Volk von traumatisierten, misshandelten und wütenden Minderjährigen bewegt sich ohne Schutz durch unseren Kontinent. Je weniger wir sie schützen, desto weniger werden sie unserem Wertesystem vertrauen und eine Offenheit für unsere Kultur entwickeln. Welch hasserfüllte Erwachsene werden sie werden? Was für zukünftige Europäer werden sie sein?
«Die Lösung dafür ist es, einen Standard für die Betreuung dieser Kinder zu entwickeln» sagte mir der Menschenrechtler Josè Palazon aus Melilla im Laufe eines Interviews für unseren Film. «Die Kinder bleiben im Aufnahmezentrum, wenn man sie einschult, ihnen Papiere ausstellt und sie wie Kinder behandelt. Andernfalls hauen sie ab. Die Verwaltung von Melilla (...) behandelt die Kinder jedoch so, dass sie abhauen. Sie sieht die Kinder als Feinde. Aber es sind keine Feinde, es sind Kinder.»
Das gilt nicht nur für Melilla, sondern für ganz Europa. Es sind Kinder und sie gehören zur nächsten Generation.
Mein Eindruck ist, dass zwar viele Ressourcen in Europa für den Schutz der Migranten zur Verfügung gestellt werden. Doch der Schutz der Kinder ist mangelhaft und scheitert nicht selten. Es fehlt an Informationsaustausch zwischen Institutionen für Flüchtlinge, und es fehlt an Kontrolle der Fördergelder für die Aufnahme von Migranten. Dazu kommen dubiose politische Entscheidungen. Dies führt dazu, dass die Institutionen massiv scheitern. Wir lassen ausgerechnet diejenigen im Stich, die unsere Unterstützung am meisten bräuchten.