Das Verhalten des jungen Eritreers im Durchgangszentrum empfand ich als unangebracht. Da ging ich freundlich lächelnd auf ihn zu – und dann schaute er mich nicht einmal an, als ich ihm zur Begrüssung die Hand gab. «Das kann ja heiter werden», dachte ich mir und begann mit den Filmaufnahmen.
Auch der nächste Drehtermin barg eine unliebsame Überraschung. Wieder begleitete ich die Integrationshelferin Fana Asefaw bei der Arbeit. Wieder kam es zur Begrüssung mehrerer eritreischer Asylsuchender. Und wieder wurde ich keines Blickes gewürdigt. War das Scheu? Desinteresse? Unhöflichkeit?
Kulturelle Barrieren
Bevor ich meine Protagonistin darauf ansprechen konnte, trat sie an einer Tagung der Schweizerischen Flüchtlingshilfe auf. In ihrem Vortrag ermunterte sie die Teilnehmer, auf Eritreer zuzugehen und sich auch nicht von sprachlichen oder kulturellen Barrieren aufhalten zu lassen – etwa, wenn die Fremden beim Händeschütteln den Blick zu Boden richteten. Das sei ein Zeichen des Respekts.
Was ich also schon fast als mangelnde Wertschätzung mir gegenüber gedeutet hatte, entpuppte sich als das pure Gegenteil. Und ich Unwissender hatte den Eritreern immerzu in die Augen schauen wollen, als ich ihre Hand ergriff… Wie unhöflich! Tja, für sie war mein Verhalten wohl genauso falsch gewesen wie das ihrige für mich.
Unwissen verursacht Schäden
Diese Episode verdeutlichte mir, wie schnell man Gefahr läuft, falsche Schlüsse zu ziehen. Lehrreich war für mich deshalb auch ein Schauplatz, der im «Reporter» keinen Platz fand: Die Stadtzürcher Fachstelle für Gleichstellung.
Dort referierte Fana Asefaw zu weiblicher Genitalbeschneidung: das Thema ihrer Doktorarbeit. Die Psychiaterin – die selbst unversehrt ist – verurteilt diese Tradition. Gleichzeitig betont sie, dass Unwissen über die kulturellen Unterschiede erst recht zu psychischen Schäden führen kann.
Unziemliche Reaktionen
In Eritrea nehmen sich die Beschnittenen nämlich nicht als abnorm wahr. Vielmehr gelten sie als rein und jungfräulich. Dieses Wertesystem verstört in Westeuropa. Dies entschuldigt aber nicht, dass die Frauen hier teils verletzende Reaktionen bei ärztlichen Untersuchungen erleben müssen, wie Fana Asefaw belegen kann.
Aus Respekt vor den Betroffenen spricht sie daher bewusst nicht von «Genitalverstümmelung», sondern von «Genitalbeschneidung». Die Kenntnis mehrerer Kulturen hilft einem, aufmerksamer durchs Leben zu gehen.