SRF DOK: Boris Nemzow war Russlands bekanntester Oppositionspolitiker. Was war besonders an ihm?
Yevgeny Gindilis: Für die Leute, die ihn unterstützten, war er besonders, denn er war einer der Ersten, der an die Möglichkeit von Veränderung im heutigen Russland glaubte. Er glaubte, dass die Leute, die in die Sowjetunion hineingeboren wurden, ihr Leben angenehmer organisieren können – ähnlich wie es das restliche Europa tut. Dieser Glaube trug er über die Jahre hinweg mit sich, als Gouverneur, als Vize-Premierminister und auch als Oppositionsführer. Viele Leute teilten diesen Glauben mit ihm.
Für die Menschen, die heute an der Macht sind, war er – ich würde nicht sagen besonders – aber anders, denn er war politisch erfahren, konnte mit Putin und anderen Machthabern reden, er würde nicht zurückschrecken. Er war die Hoffnung eines friedlichen Übergangs von einem Regime zum nächsten. Es war wirklich dumm, ihn zu töten, denn er wäre der Erste gewesen, der die heutigen Machthaber vor Unterdrückung beschützt hätte, würden sie ihre Macht verlieren.
Der Tod von Nemzow liegt nun ein Jahr zurück. Wie verlaufen die Mordermittlungen?
Mehrere Personen, die eine direkte Verbindung zu Ermordung Nemzows haben, wurden verhaftet. Weitere Untersuchungen nach deren Auftraggeber waren erfolglos. Wir sehen jetzt: Die Staatsbeamten versuchen, die Untersuchungen zu stoppen. Es ist bekannt, dass es viele Verbindungen gibt zwischen den Leuten, die bei der Ermordung involviert waren. Sie reichen ins Innenministerium und in die Geheimdienste. Wir sehen nur jene Teile der Wahrheit, die für das Regime keine Gefahr darstellen. Alles andere wird verdeckt.
Nemzow arbeitete eng mit dem Westen zusammen. War das ein möglicher Grund für seinen Tod?
Er war aktiv daran beteiligt, als es darum ging, Russland mit Sanktionen zu bestrafen. Es war ihm wichtig, internationalen Druck auf Putins Regime auszuüben. Somit könnte es einer der Gründe für seinen Tod gewesen sein.
Die Opposition feiert Nemzow als Helden. War er wirklich frei von Skandalen?
Natürlich gab es Skandale, besonders in den 90er-Jahren als er politische Ämter innehatte und viele Leute versuchten, ihn niederzuschlagen. Die Skandale konnten seiner Integrität aber nichts anhaben. Es gab zum Beispiel die Geschichte um sein persönliches Leben, er hatte zwei Frauen, zwei Familien. Doch weil in seinem Umfeld alle offen damit umgingen, schadete es ihm nicht.
Der grosse Unterschied zwischen Nemzow und der politischen Klasse Russlands ist, dass er kein bisschen korrupt war. Niemand konnte Nemzow Korruption vorwerfen. Viele Leute versuchten, etwas aufzudecken, aber das war unmöglich.
Wie würden Sie die Stimmung in Russland heute beschreiben?
Es herrscht eine grosse Unzufriedenheit. Die wirtschaftliche Situation verschlechtert sich jeden Tag. Die Aussenpolitik, die Position Russlands, verschlechtert sich auch jeden Tag. Viele Menschen haben Angst, Angst offen zu sprechen, Angst vor neuen Gesetzen, die es der Regierung erlaubt, Demonstranten wegzusperren.
Kann dieser Film in Russland gezeigt werden?
Wir machten diesen Film ohne Rücksicht darauf, dass er nicht erlaubt sein könnte. Das heisst, die grossen russischen Fernsehsender werden diesen Film nie zeigen. Es gibt nur einen Sender, der den Film zeigen könnte: der unabhängige Fernsehkanal «Doschd». Der Film wurde aber hauptsächlich für ein internationales Publikum gedreht. Die Geschichte nach dem Fall der Sowjetunion ist kompliziert. Wir müssen viele Dinge erklären, für ein Publikum, dass nicht alle Details verfolgt.
Gibt es eine Demonstration anlässlich Nemzows Todestags am 27. Februar?
Sicherlich! Es ist eine grosse Demonstration geplant, ein Marsch in Moskau und anderen Städten. Die Organisatoren erwarten 50‘000 Besucher in Moskau. Lange erhielten sie keine Autorisierung der Stadt, um den Marsch zu einer offiziellen Veranstaltung zu machen. Doch nun wurde der Marsch amtlich zugelassen – so werden noch mehr Menschen kommen.
Sie wohnen in Moskau, sind Sie als Produzent dieses Filmes in Gefahr?
Ich hoffe nicht ( lacht ). Man weiss es nie, wir sind in einer solchen schwierigen Situation – aber ich glaube nicht, dass sie nach diesem Film noch schwieriger werden kann.
Wie sehen Sie Russlands Zukunft?
Langfristig gesehen ist es unabdingbar, dass Russland sich in die Familie von europäischen Staaten einreiht, die die gleichen Werte teilen. Viele Russen glauben daran.
Es wird Zeit brauchen und nicht einfach werden. Wir müssen dafür kämpfen. Als 1991 die Sowjetunion zusammenbrach, bekamen wir viel umsonst. Die Leute bekamen Freiheit, ohne dafür zu kämpfen. So haben wir es nicht wertgeschätzt, wir dachten, es wird für immer so bleiben. Jetzt müssen wir uns wirklich bemühen, um unsere Freiheit zurückzuerlangen.