Ich erinnere mich noch genau an die erste Begegnung mit der 11-jährigen Joyenna: Sie öffnet mir mit der einen Hand die Haustür, unter den anderen Arm geklemmt hält sie «Flöckli» – einen der Hunde der Familie Deller. Sie schmettert mir ein «Hallo!» entgegen und strahlt mich an.
Ich bin erleichtert. Denn ich wusste nicht genau, was mich erwarten würde. Alles, was ich über Joyenna zu diesem Zeitpunkt wusste, stammte aus einem Film, den meine Kollegin an der internationalen Filmmesse in Cannes entdeckt hatte. Er zeigte, wie die kleine Mi Hyang, so hiess Joyenna damals noch, als 4-jähriges Mädchen von ihrer nordkoreanischen, leiblichen Mutter getrennt wurde, eine gefährliche Flucht durch ganz Südostasien auf sich nehmen musste, in Thailand in einem Heim steckenblieb – bis sie in die Schweiz zu ihrer Adoptiv-Familie kam.
Eine Grossfamilie im Thurgau adoptiert Joyenna
Nun kommt Mirjam Deller um die Ecke. Wir setzen uns an den grossen Familientisch. Die Adoptiv-Mutter erzählt mir ihre Geschichte: Dass sie ein Mädchen aus Nordkorea adoptieren wollte, wie Joyenna zu ihnen kam, wie es dem Mädchen erging, seit es in die Schweiz gekommen ist. Und sie erzählt auch vom Moment, als ihr Ehemann und Joyennas geliebter Adoptiv-Vater starb. Immer wieder kommt Joyenna dazu, will genau wissen, wozu ich das alles erfahren will, dann saust sie wieder davon, um ihrer kleinen Schwester Janine hinterherzurennen, den Hund zu streicheln oder im oberen Stock in ihrem Zimmer zu spielen. Wir brauchen einen kleinen Moment, bis wir einander verstehen – ich sie, weil ihre Sprache aufgrund ihrer Gehörlosigkeit nicht ganz deutlich ist – und sie mich, weil sie sich genau konzentrieren muss, wenn sie jemanden neu kennenlernt, erklärt mir die Mutter. Doch wir verstehen uns rasch – und wir verstehen uns gut.
Schwierige Erfahrungen für ein Kind
Ich bin beeindruckt, wie reif Joyenna wirkt. Als Mutter von Kindern in ähnlichem Alter ertappe ich mich dabei, wie ich innerlich beginne zu vergleichen. Wahrscheinlich liegt es daran, dass Joyenna schon so viel durchgemacht hat in ihrem doch recht kurzen Leben. Die Trennung von der leiblichen Mutter, die Operationen am Ohr, das Kinderheim in Thailand, die lange Reise in die Schweiz, der Tod ihres Adoptiv-Vaters. Viel für ein Kind.
Wie geht ein so kleines Mädchen mit so vielen, schwierigen Erfahrungen um, frage ich mich. Mirjam Deller sagt, Joyenna sei ein starkes Mädchen mit einem sehr starken Willen, das sich gut in die Grossfamilie integriert hat.
Joyenna ist eine Kämpferin. Das ist auch mir schon nach dem ersten Besuch bewusst. Ich bin gespannt, wie Joyenna auf den angekündigten Besuch ihrer leiblichen Mutter aus Südkorea reagieren wird? Wir dürfen die Begegnung mit der Kamera dokumentieren, und mir wird klar, weshalb das Mädchen auch diese anspruchsvolle Situation so gut meistert – Joyenna bekommt bei Familie Deller Halt und Geborgenheit, und hat sich trotz allem zu einem aufgeweckten und lebensfrohen Mädchen entwickelt.