Es schien zu unglaublich, um wahr zu sein: Der englische Tierfilmer Martin Dohrn und sein indischer Kollege Praveen Singh produzierten 2015 einen Film, der zeigt, wie im letzten Reservat des Asiatischen Löwen, im Nationalpark von Gir, die Bestände in den letzten Jahrzehnten so stark zugenommen haben, dass sich die Löwen nun grossflächig ausbreiten, weit in die Siedlungsgebiete der Menschen. Und sie sind dort nicht etwa gefürchtet, sondern hoch willkommen. Niemand regt sich darüber auf, dass sie Kühe und Wasserbüffel reissen und sogar in Einzelfällen Menschen töten. Sowohl in der Bevölkerung als auch bei den Behörden bleiben die Gewehre im Schrank. «Problemlöwen» werden allenfalls weggefangen und anderswo freigelassen und Einzelfälle von Menschenfressern landen schlimmstenfalls im Zoo. Und wenn sich ein Löwe verletzt, fangen ihn spezialisierte Tier-Rettungsteams ein und pflegen ihn gesund. Ist das ein indisches Märchen als Tierfilm, das in kommerzieller Absicht das romantische Bedürfnis eines naiven Publikums in den Städten der westlichen Welt befriedigt?
Zu schön, um wahr zu sein?
Der «NETZ NATUR» -Redaktion schien diese Geschichte aus dem westlichsten Bundesstaat Indiens, aus Gujarat, nun doch zu dick aufgetragen, um sie einfach so zu glauben und sie recherchierte. Bei Fachleuten in Indien und in der Filmemacher-Szene. Zu unserem Erstaunen bestätigten alle Informanten den Sachverhalt: Ja, in Gujarat leben viele Löwen und Menschen in derselben Landschaft in engstem Kontakt friedlich zusammen – Tendenz stark zunehmend. Nein, in Gujarat kämen nirgends Gewehre gegen wilde Tiere zum Einsatz. Und auf unsere Frage, ob man denn in Indien jage, um die Bestände des Wildes zu regulieren oder um sich zu vergnügen, verstand der hochrangige Wildtierbiologe des staatlichen Forschungsinstituts unsere Frage zunächst gar nicht. Tiere schiessen? Aber wozu denn? Das sei doch unethisch …
Jagd als Demonstration der Macht
Die neuste Geschichte des Asiatischen Löwen in Indien ist unter anderem die Reaktion auf frühere Zeiten. Die Engländer frönten als arrogante, versnobte Kolonial-Herren ausgiebig dem Jagd«sport». Die gesamten Wildbestände wurden für das Jagdvergnügen übernutzt und bei vielen Arten bis an kritische Grenzen abgeschossen – Jagdparties waren die Machtdemonstration der politischen Herrschaft. So standen die Asiatischen Löwen Indiens bereits 1913 am Rande der Ausrottung – es waren gerade noch 20 Individuen übrig. Im Gir-Wald fanden sie ihr letztes Refugium. Dort stellte sie ein indischer Regionalfürst unter Schutz – ein Entscheid, der den Asiatischen Löwen vor dem Aussterben rettete. Kurz nachdem das Land 1947 die Unabhängigkeit von England erreicht hatte, stellte die neue indische Regierung die Löwen unter absoluten Schutz – die illustren britischen Jagdparties fanden ihr abruptes Ende.
Die indische Bevölkerung verzichtete aufgrund ihres mehrheitlich hinduistischen Glaubens ohnehin auf das Töten wilder Tiere – aber nicht zuletzt auch als Ausdruck der Unabhängigkeit von den gewalttätigen Kolonialherren. So nahmen nicht nur die Löwen, sondern auch ihre natürlichen Beutetiere, Hirsche, Antilopen und Wildschweine stark zu: Am stärksten ausserhalb der Schutzgebiete, weil in den Feldern der Landbevölkerung ein Schlaraffenland lockte. Und trotz massiver Schäden in der Landwirtschaft greift man in Indien bis heute nicht zum Gewehr. Jede Nacht werden die Wildtiere auf den Feldern von Wächtern vertrieben. Und da kommen die Löwen ins Spiel.
Löwen als Helfer
Durch den strikten Schutz breiten sie sich aus und finden im Kulturland reiche Beute: Einerseits die Wildtiere in den Feldern und andererseits auch die heiligen Kühe und die Wasserbüffel in den Dörfern. Doch wenn diese Rinder von Löwen gerissen werden, ist das ein natürlicher Prozess, der mit den religiösen Vorstellungen harmoniert. Der Löwe als auserwähltes Reittier der zehnarmigen Hindu-Göttin Durga darf das. Und eine bescheidene staatliche Entschädigung für gerissene Nutztiere tut ein weiteres zur Akzeptanz dieser Verluste bei den Rindern. Doch der positive Effekt der Löwen für die Landwirtschaft ist: Sie vertreiben effizienter als jeder menschliche Lärm die vielen Hirsche, Antilopen und Wildschweine aus den Feldern. Die Löwen arbeiten dabei sogar bei ihrer nächtlichen Jagd mit den Bauern zusammen. Und, atemberaubend: Wenn Menschen wilden Löwen draussen begegnen, kreuzen sie sich in aller Ruhe auf kürzeste Distanz.
Raubtiere anders sehen
So wird im modernen Indien, dort, wo sich die Menschen nicht als Herren und Manager der Natur verstehen, selbst in der heutigen Zeit ein respektvolles Verhältnis zwischen der menschlichen Landbevölkerung und grossen Fleischfressern möglich. Mit denjenigen Tieren, die wir im Westen sensationell als gefährliche Raubtiere bezeichnen. Und wir staunen darüber, dass in Indien die Löwen Menschen gegenüber so friedlich sind.