SRF DOK: Als Sedruner haben Sie den Bau des Gotthard-Basistunnel von Beginn an mit der Kamera begleitet. Wie war das, als die ersten Tunnelbauer in Sedrun auftauchten?
Gieri Venzin: Die Tunnelbauer wurden von den Sedrunern geradezu sehnsüchtig erwartet. Denn aus ihrer Sicht dauerte es unendlich lange, bis sie endlich kamen. Erste Sondierbohrungen wurden ja bereits Ende der 1980er Jahre gemacht. 1996 begannen die Vorarbeiten. Einiges Aufsehen erregten 1998 die schwarzen Mineure aus Südafrika, die man geholt hatte, um den 800 Meter tiefen Schacht, «das Loch», wie es bald im Dorf hiess, aus dem Berg zu sprengen. Die Sedruner schlossen sie gleich ins Herz. Sie empörten sich, als sie sahen, wie schlecht die schwarzen Arbeiter von ihren weissen Vorgesetzten behandelt wurden.
Ab 2002/2003 begann der sogenannte Vortrieb Richtung Süden und Norden. Es kamen Hunderte Tunnelbauer. Und die Stimmung war fast schon euphorisch. Alle und alles war neu. In Sedrun herrschte, so drückt es der österreichische Mineur Robin Lora im Film aus, Halligalli.
Die Sedruner sind traditionell fremdenfreundlich
In Sedrun lebten Mineure aus aller Welt zusammen – Österreicher, Südafrikaner, Deutsche, Serben, Italiener. Kam es da nie zu Spannungen?
Nein, keine nennenswerten Spannungen, trotz eines Ausländeranteils von 40 Prozent. Und, das mag vielleicht erstaunen, mich hat es nicht überrascht. Die Sedruner sind traditionell fremdenfreundlich. Das hatten sie schon in den 1950/1960er Jahre bewiesen beim Bau der grossen Staumauern, als bis zu 1000 Fremdarbeiter im Tal lebten – damals allerdings noch in Baracken zuhinterst in den Seitentälern. Im Gegenteil, als nach dem Durchschlag die Männer nach und nach aus dem Tal verschwanden, sah ich bisweilen traurige Gesichter.
Welches Ereignis bei den Dreharbeiten im Gotthard war für Sie am Eindrücklichsten?
Die erste Sprengung. Der Knall und die Druckwelle danach. Und wie der Berg zittert. Und Minuten später noch ächzt. Unbeschreiblich.
Die Routine ist am gefährlichsten
Neun Menschen verunglückten beim Bau des Gotthardtunnels, von allen gibt es Filmaufnahmen, mit vielen der Angehörigen haben Sie gesprochen. Was macht die Arbeit im Tunnel so gefährlich?
Am gefährlichsten ist wohl die Routine oder die Unachtsamkeit aufgrund von Ermüdung oder nachlassenden Respekts. Die Sicherheitsbeauftragten des Gotthard-Basistunnels sagten mir, Unfälle würden heute im Tunnel vor allem dort passieren, wo es eigentlich nicht gefährlich sei. Die Mineure haben stets geäussert, es würde viel für die Sicherheit getan. Mehr als anderswo in Europa. Heute haben die Tunnelbauer die klassischen Unfallursachen fast gänzlich im Griff. Bergschlag oder Unfälle mit Dynamit gibt es kaum noch. Verkehrsunfälle allerdings schon, wenn auch viel weniger häufig als früher.
Warum scheiterte die Porta Alpina?
Sedrun träumte von der Porta Alpina, einem unterirdischen Bahnhof im Gotthardmassiv? Weshalb ist dieser Traum geplatzt?
Da möchte ich zunächst die Sedruner etwas in Schutz nehmen. Die Porta Alpina war mehr als ein Traum. Die technische Machbarkeit war ja unbestritten. Der Bundesrat hatte 2005 die Investitionen angeschoben, die beiden Bundeskammern hatten diese bestätigt. Gemeinde, Region und Kanton Graubünden, alle hatten sich an der Urne für die Porta Alpina ausgesprochen. Die SBB allerdings waren von Beginn weg skeptisch. Und das war wohl das Entscheidende. Der damalige Gemeindepräsident Pancrazi Bretter sagte einst – die sich wandelnden Forderungen der Bundesbahnen vor Augen: «Die SBB hat das toll hingekriegt. Sie hat es geschafft, uns nicht einmal eine Absage erteilen zu müssen. Am Ende mussten wir selber sagen: Im Moment geht es nicht.»
Am Ende sistierte ja die Bündner Regierung das Projekt. Dieser Entscheid scheint mir bis heute noch nicht ganz verdaut.
Die coolste Schlittelbahn ist weg
Wie hat sich Sedrun während der Bauzeit verändert?
Aus der Ferne betrachtet kaum. Jemand, der das Tal vor dem Bau nicht gekannt hat, wird die Spuren des Jahrhundertbaus suchen müssen. In der Val Bugnei eingangs des Dorfs wurde der grösste Teil des Ausbruchmaterials deponiert. Es ist der markanteste Landschaftseingriff.
Mir persönlich tut natürlich die Aufschüttung der alten Strasse, die nach Cavorgia führte, leid. Dort konnten wir früher schlitteln. Nun gibt es nicht mal mehr ein Foto davon und so wird sich schon bald niemand mehr daran erinnern. Aber es war, das müssen Sie mir glauben, die coolste Schlittelbahn der Welt!
Ein Jahrhunderbauwerk kann einen Trend nicht aufhalten
Wie geht es der Gemeinde Sedrun heute? Wie den anderen Berggemeinden, haben sie vom Bau des Gotthard-Basistunnels profitiert?
Die Gemeinde Sedrun steht finanziell besser da, als die Nachbargemeinden. Grundsätzlich hat sie aber die gleichen Probleme wie die allermeisten Berggemeinden: Immer weniger Arbeitsplätze, weniger Leute, vor allem weniger junge Leute. Dass die Jahrhundertbaustelle Sedrun diesen Mega-Trend gar nicht zu beeinflussen vermochte, war für mich doch ein wenig überraschend.
Sie sind ein Chronist der Neat, was bedeutet für Sie die Einweihung des Gotthard-Basistunnels?
Ganz ehrlich gesagt: Ich bin froh, dass der Tunnel endlich eingeweiht werden kann. Und so meine Arbeit zu einem Abschluss kommt. 2002, als ich mit dem Film begann, rechnete man noch mit einer Fertigstellung im Jahre 2012. Vermutlich wird es aber noch eine Weile dauern, bis ich wirklich begriffen habe, dass die Dreharbeiten tatsächlich beendet sind.