SRF DOK: Wieso haben Sie sich als Engländerin entschlossen, einen Film über die Vergewaltigungen in Indien zu machen?
Leslee Udwin: Als ich nach der Vergewaltigung und dem Tod von Jyoti Singh die Proteste in Indien sah, dachte ich, da muss ich hin. Ich sah darin so viel positive Energie – die Inder wollten etwas ändern an ihrer Situation. Es gingen nicht nur Frauen auf die Strasse, sondern auch viele Männer. Männer, die etwas daran ändern wollen, dass die Frauen in Indien immer noch viel weniger wert sind in ihrer Gesellschaft. Wenn in Indien heute ein Junge zur Welt kommt, dann werden Süssigkeiten verteilt. Kommt ein Mädchen zur Welt, werden die Eltern bemitleidet. Ich verbrachte insgesamt zwei Jahre in Indien, weil ich verstehen wollte, wie diese Gesellschaft wirklich funktioniert.
Sie waren auch im Gefängnis, in dem die zum Tode verurteilten Mörder von Jyoti Singh einsitzen. Wie haben Sie sich diesen Zugang verschafft?
Das war eigentlich ganz einfach: Ich habe um Erlaubnis gefragt, die Täter zu interviewen und habe sie bekommen. Das war für mich ganz wichtig, ohne die Aussagen der Täter wäre der Film für mich nicht so gehaltvoll geworden. Ich habe den Behörden erklärt, dass es von grossem, öffentlichen Interesse ist, dass ich mit den Tätern sprechen kann. Die Frage, die mich umtrieb, war: Weshalb vergewaltigen Männer?
Ich führte 31 Stunden Interviews mit einem der Vergewaltiger und fand doch keine Antwort.
Die Antwort fand ich in der indischen Gesellschaft. Die Männer in der indischen Gesellschaft wachsen mit der Überzeugung auf, dass Frauen weniger wert sind. Das wird ihnen eingetrichtert. Also darf man mit Frauen auch machen, was man will. Häufig ist auch die mangelnde Bildung ein Problem.
Ihr Film durfte in Indien selbst nicht ausgestrahlt werden, die indische TV-Station hat am geplanten Sendetermin aus Protest eine Stunde lang Schwarzbild gesendet. Wie war das für Sie persönlich?
Ich war schockiert. Ich wollte Indien ja nicht schlecht darstellen. Im Gegenteil, ich wollte ein modernes, offenes Indien zeigen. Menschen, die um ihre Rechte kämpfen. Am meisten verletzt hat mich, dass das Gericht die Ausstrahlung verboten hat, ohne den Film gesehen zu haben.
Die Situation wurde dann etwas brenzlig, so dass mir sieben verschiedene Anwälte rieten, das Land zu verlassen. Aber ich blieb, bis zu dem Zeitpunkt, an dem ich sowieso nach Grossbritannien zurückgekehrt wäre. Man sagte mir, dass eine halbe Stunde nach meiner Abreise mein Apartment durchsucht worden sei.
Am 27. Mai 2015 ist die nächste Gerichtsverhandlung. Dann wird entschieden, ob der Film in Indien doch noch ausgestrahlt werden darf.
Seit dem Tod von Jyoti Singh und auch seit Ihrem Film hat sich in Indien dennoch einiges getan.
Und ob! Die Gesetze zum Schutz der Frauen wurden verschärft. Und es werden heute mehr Vergewaltigungen zur Anzeige gebracht.
Die Frauen überwinden ihre Angst, ihre Scham und das Stigma der Vergewaltigung heute viel eher.
Ich habe sehr viele Reaktionen erhalten auf meinen Film. Von Leuten, die in ihrem eigenen Land auch aktiv wurden, zum Beispiel Journalisten und Dokumentarfilmer.
Eine E-Mail eines Mannes hat mich besonders berührt. Er hat mir geschrieben, dass er sich in den Aussagen des Vergewaltigers zum Teil wiedererkannte – obschon er niemals eine Frau vergewaltigen oder schlagen würde! Das habe ihm die Augen geöffnet.